Nicht das geringste Anzeichen dafür, daß sie zurückschreckte oder stockte, nicht der Ansatz einer Grimasse. Sie stand auf, lud in aller Eile ihre Kleider in die Maschine und fragte ihn, ob er ihr Geld wechseln könne.
Dann kehrte sie an ihren Platz zurück und nahm ihr Buch wieder auf.
Er war ein wenig enttäuscht.
Perfekte Menschen waren etwas Gräßliches …
Bevor sie wieder in die Lektüre eintauchte, sprach sie ihn an:
»Sag mal …«
»Ja?«
»Wenn ich Philibert zu Weihnachten eine Waschmaschine schenke, die auch als Trockner funktioniert, meinst du, du könntest sie anschließen, bevor du ausziehst?«
»…«
»Was lachst du jetzt? Hab ich was Dummes gesagt?«
»Nein, nein.« Er winkte ab: »Das verstehst du nicht.«
»He«, sagte sie und klopfte sich mit Zeige- und Mittelfinger auf den Mund, »rauchst du zu viel im Moment, oder was?«
»Im Grunde bist du ganz normal.«
»Warum sagst du das? Natürlich bin ich normal.«
»…«
»Enttäuscht dich das?«
»Nein.«
»Was liest du da?«
»Einen Reisebericht.«
»Gut?«
»Super …«
»Worum geht’s da?«
»Ach, ich weiß nicht, ob dich das interessiert.«
»Nee, ich sag’s ganz offen, es interessiert mich überhaupt nicht«, kicherte er, »aber ich mag es, wenn du erzählst. Übrigens, ich hab mir die CD von Marvin gestern noch mal angehört.«
»Echt?«
»Ja.«
»Und?«
»Tja, das Problem ist, daß ich nix versteh. Drum will ich zum Arbeiten nach London. Um Englisch zu lernen.«
»Wann gehst du?«
»Eigentlich hatte ich einen Platz für nach dem Sommer, aber im Moment ist alles in der Schwebe. Eben wegen meiner Großmutter. Wegen Paulette.«
»Was hat sie denn?«
»Pff … Ich hab keine Lust, darüber zu reden. Erzähl mir lieber von deinem Reisebuch.«
Er rückte mit seinem Stuhl heran.
»Kennst du Albrecht Dürer?«
»Den Schriftsteller?«
»Nein. Den Maler.«
»Nie gehört.«
»Doch, ich bin mir sicher, daß du schon welche von seinen Bildern gesehen hast. Einige sind ganz berühmt. Ein junger Hase, Gräser, Löwenzahn.«
»…«
»Für mich ist er ein Gott … Ich habe zwar mehrere Götter, aber er ist mein Gott Nummer eins. Hast du irgendwelche Götter?«
»Hm.«
»In deinem Beruf? Ich weiß nicht … Escoffier, Carême, Curnonsky?«
»Hm.«
»Bocuse, Robuchon, Ducasse?«
»Ach so, du meinst Vorbilder? Ja, ich hab welche, aber die sind nicht so berühmt, oder weniger berühmt. Weniger im Rampenlicht halt. Kennst du Chapel?«
»Nein.«
»Pacaud?«
»Nein.«
»Senderens?«
»Den Typ vom Lucas Carton?«
»Ja. Wahnsinn, was du alles weißt. Wie machst du das bloß?«
»Moment mal, ich kenn ihn nur so, vom Namen her, ich bin nie dagewesen.«
»Der ist echt gut. Ich hab sogar ein Buch von ihm in meinem Zimmer. Das kann ich dir zeigen. Er und Pacaud, das sind für mich die Meister. Und daß sie weniger bekannt sind als die anderen, liegt daran, daß sie eben in der Küche stehen. Na ja, ich sag das so, keine Ahnung. So stell ich es mir jedenfalls vor. Vielleicht lieg ich auch total daneben.«
»Aber unter Köchen unterhaltet ihr euch doch auch? Erzählt euch von euren Erfahrungen?«
»Nicht so viel. Wir sind nicht sehr geschwätzig, weißt du? Wir sind zu schlapp, um zu quasseln. Wir zeigen uns Sachen, irgend welche Kniffe, wir tauschen Ideen aus, Rezepte, die wir hier und da aufgeschnappt haben, aber viel weiter geht es meistens nicht.«
»Schade.«
»Wenn wir uns gut ausdrücken könnten, schöne Sätze von uns geben und so was, würden wir diese Arbeit nicht machen, so viel ist klar. Also, ich jedenfalls nicht, ich würd sofort aufhören.«
»Warum?«
»Weil … Es ist idiotisch. Die reinste Sklavenarbeit. Du hast ja gesehen, wie mein Leben aussieht. Total beschissen. Okay … eh … ich red überhaupt nicht gern über mich. Und dein Buch?«
»Tja, mein Buch … ist ein Tagebuch, das Dürer von 1520 bis 1521 auf einer Reise in die Niederlande geführt hat. Eine Art Reisebuch oder Journal. Es ist im übrigen der Beweis dafür, daß ich ziemlich daneben liege, wenn ich in ihm einen Gott sehe. Der Beweis, daß auch er ein ganz normaler Mann war. Der jeden Pfennig umdrehte, der wütend wurde, wenn er feststellte, daß ihn die Zöllner reingelegt hatten, der sich immer wieder von seiner Frau trennte, der sich beim Spielen nicht beherrschen konnte und dabei Geld verlor, der naiv war, gern gut aß, ein Macho und auch ein bißchen dünkelhaft. Aber okay, das alles ist nicht so wichtig, im Gegenteil, das macht ihn menschlicher. Und … hm … Willst du noch mehr hören?«
»Ja.«
»Eigentlich ist es eine Reise, die er aus einem ziemlich ernsten Grund angetreten hat, nämlich um sein Überleben zu sichern, das seiner Familie und der Leute, die mit ihm in seinem Atelier gearbeitet haben. Bis dahin hatte er unter dem Schutz Kaiser Maximilians I. gestanden. Einem Kerl, der total größenwahnsinnig war und ihm einen verrückten Auftrag erteilt hatte: Er sollte ihn am Kopf eines Triumphzugs darstellen, um ihn für immer unsterblich zu machen. Ein Werk aus mehreren Holzschnitten, von denen Jahre später schließlich ein Abdruck gemacht wurde und das mehr als vierundfünfzig Meter lang ist. Kannst du dir das vorstellen?
Für Dürer war das ein Segen. Jahrelange gesicherte Arbeit. Unglücklicherweise kratzt Maximilian kurze Zeit später ab, und schon sind seine jährlichen Einkünfte gefährdet. Katastrophe. Deshalb
macht sich unser Mann also mit seiner Frau und der Dienerin im Schlepptau auf den Weg, um Karl V. dem künftigen Kaiser, und Margarete von Österreich, der Tochter seines ehemaligen Schutzherrn, um den Bart zu gehen, denn diese Einkünfte müssen unbedingt weiter fließen.
So weit die Situation. Deshalb ist er am Anfang etwas gestreßt, was ihn aber nicht davon abhält, ein perfekter Tourist zu sein. Er begeistert sich für alles, die Gesichter, die Sitten, die Kleider, besucht seinesgleichen, die Handwerker, bewundert ihre Arbeit, besucht alle Kirchen, kauft eine ganze Menge Nippes, frisch aus der Neuen Welt importiert: einen Papagei, einen Pavian, ein Stück Schildkrötenpanzer, Korallenstöcke, Zimt, einen Elchhuf etc. Er ist wie ein kleines Kind. Er macht sogar einen Umweg, um einen gestrandeten Wal zu sehen, der am Nordseestrand verwest. Und natürlich malt er. Wie ein Verrückter. Er ist fünfzig, er ist auf dem Höhepunkt seines Schaffens, und egal, was er macht: einen Papagei, einen Löwen, ein Walroß, einen Leuchter oder das Porträt seines Gastwirts, es ist … es ist …«
»Es ist was?«
»Hier, sieh selbst.«
»Nee, nee, davon versteh ich nix!«
»Da gibt es nichts zu verstehen! Sieh dir den Alten an, wie beeindruckend der ist. Und diesen schönen jungen Mann, siehst du, wie stolz er ist? Wie selbstsicher er aussieht? Man könnte glatt meinen, das wärst du, die gleiche Überheblichkeit, die gleichen weiten Nasenlöcher …«
»Ach, tatsächlich? Findest du, daß er gut aussieht?«
»Ein leichtes Backpfeifengesicht, oder?«
»Das macht der Hut.«
»Ah ja, du hast recht«, lächelte sie, »das muß der Hut sein. Und seine Visage? Ist die nicht irre? Man meint doch, daß er uns verhöhnt, daß er uns provoziert: ›He, Leute. Das ist es, was euch erwartet …‹«
»Zeig mal.«
»Hier. Aber was mir am besten gefällt, sind seine Porträts, und was mich echt umhaut, ist die Ungeniertheit, mit der er sie malt. Hier auf der Reise ist es vor allem Tauschwährung, nichts anderes als Naturalienhandel: dein Können gegen meins, dein Porträt für ein Abendessen, einen Rosenkranz, ein Kinkerlitzchen für meine Frau und einen Mantel aus Kaninchenfell. Ich hätte liebend gern in dieser Zeit gelebt. Ich halte den Naturalienhandel für eine geniale Wirtschaftsform.«
»Und wie geht es aus? Kriegt er seine Flocken?«
»Ja, aber zu welchem Preis. Die dicke Margarete verschmäht ihn, sie geht sogar so weit, das Porträt abzulehnen, das er extra für sie von ihrem Vater angefertigt hat, die dumme Nuß. Also tauscht er es gegen ein Bettlaken! Außerdem kehrt er krank zurück, eine fiese Geschichte, die er sich ausgerechnet bei seinem Abstecher zu dem Wal eingefangen hat. Sumpffieber, glaube ich. Ach übrigens, hier ist eine Maschine frei geworden.«
Seufzend stand er auf.
»Dreh dich um, ich will nicht, daß du meine Unterwäsche siehst.«
»Ach, die brauch ich nicht zu sehen, um sie mir vorstellen zu können. Philibert geht bestimmt in Richtung gestreifte Unterhosen, aber du trägst sicher diese kleinen hautengen Dinger von Hom, bei denen auf dem Bund was draufsteht.«
»Du bist ganz schön gut. Los, guck wenigstens nach unten.«
Er machte sich an der Maschine zu schaffen, nahm seine halbvolle Flasche Waschmittel und stützte sich mit den Ellbogen auf die Maschine:
»Das heißt, so gut bist du nun auch wieder nicht. Sonst würdest du nicht putzen gehen, du würdest es machen wie der Typ da. Du würdest arbeiten …«
Stille.
»Hast recht. Ich bin nur gut bei Unterhosen.«
»Was ja schon mal nicht schlecht ist, oder?! Vielleicht ist das eine Marktlücke. Übrigens, hast du am 31. schon was vor?«
»Willst du mich zu einer Fete einladen?«
»Nee. Zum Arbeiten.«
16
»Warum nicht?«
»Weil ich das nicht kann!«
»Moment mal, es verlangt ja keiner von dir, daß du kochst! Du sollst bloß ein bißchen beim Mise en Place helfen.«
»Was ist denn das Mise en Place?«
»Das ist alles, was man vorher vorbereitet, um Zeit zu sparen, wenn’s rundgeht.«
»Und was müßte ich da machen?«
»Maronen schälen, Pfifferlinge putzen, Trauben enthäuten und entkernen, Salat waschen. Na ja, haufenweise idiotisches Zeug.«
»Ich bin nicht mal sicher, ob ich das kann.«
»Ich zeig dir alles, ich erklär’s dir.«
»Dazu hast du doch gar nicht die Zeit.«
»Nein. Deshalb werd ich dich vorher briefen. Ich bring morgen etwas Übungsmaterial mit und bilde dich in meiner Pause aus.«
»…«
»Komm schon! Es wird dir guttun, unter Leute zu kommen. Wo du nur mit Toten lebst und mit Typen redest, die nicht mehr da sind. Du bist ständig allein. Ist doch ganz normal, daß du nicht richtig tickst.«
»Ich tick nicht richtig?«
»Nee.«
»Hör zu. Du tust mir damit einen Gefallen. Ich hab meinem Chef versprochen, daß ich jemanden finde, der uns hilft, und ich finde niemanden. Ich sitz in der Klemme.«
»…«
»Komm schon, gib dir einen Ruck. Danach verdrück ich mich, und du siehst mich nie mehr wieder.«
»Ich bin zu einer Fete eingeladen.«
»Wann mußt du da sein?«
»Ich weiß nicht, gegen zehn.«
»Kein Problem. Das schaffst du. Ich zahl dir das Taxi.«
»Na gut.«
»Danke. Dreh dich noch mal um, meine Wäsche ist trocken.«
»Ich muß sowieso los. Bin schon spät dran.«
»Okay, bis morgen.«
»Schläfst du heut nacht hier?«
»Nein.«
»Bist du enttäuscht?«
»Oh Mann, was bist du aber auch plump.«
»Moment, ich sag das deinetwegen! Es könnte nämlich sein, daß du mit den Slips doch nicht so ganz recht hast, weißt du?«
»Wenn du wüßtest, wie egal mir deine Slips sind!«
»Dein Pech.«
17
»Wollen wir?«
»Nur zu. Was ist das?«
»Was denn?«
»Der Koffer?«
»Ach so. Das ist mein Messer-Set. Meine Pinsel, wenn du so willst. Wenn ich die nicht hätte, war ich zu nix zu gebrauchen«, seufzte er. »Siehst du, woraus mein Leben besteht? Aus einem alten Kasten, der schlecht schließt.«
»Seit wann hast du den?«
»Pff … Seit ich so groß bin. Meine Omi hat ihn mir gekauft, als ich meine Lehre angefangen hab.«
»Darf ich mal?«
»Nur zu.«
»Erzähl mir mehr.«
»Wovon?«
»Wozu die gut sind. Ich lerne gern.«
»Also, das große ist das Küchenmesser oder das Kochmesser, das nimmt man für alles, das viereckige ist für die Knochen, die Knorpel oder um das Fleisch zu klopfen, das ganz kleine ist das Officemesser, das findet man in jeder Küche, nimm schon mal, das wirst du gleich brauchen. Das lange hier nimmt man, um Gemüse zu schneiden und kleinzuhacken, das kleine ist zum Wegschneiden von Nerven, zum Zuschneiden von Fleisch und zum Entfernen von Haut, Fett und Sehnen, und die Zwillingsausgabe mit der festen Klinge ist zum Entbeinen, das ganz dünne zum Filetieren von Fisch, und das letzte ist das Schinkenmesser …«
»Und das hier ist zum Wetzen.«
»Yes.«
»Und das hier?«
»Das ist nix … Das ist nur für die Deko, aber das benutz ich schon lange nicht mehr.«
»Was macht man damit?«
»Kleine Wunderwerke. Das zeig ich dir ein andermal. Gut, bist du bereit?«
»Ja.«
»Sieh genau hin, ja? Maronen, das sag ich dir gleich, sind total fies. Die hier hab ich schon in kochendes Wasser getaucht, die sind also leichter zu schälen, normal halt. Du darfst sie auf keinen Fall beschädigen. Ihre Maserung muß intakt bleiben und gut sichtbar sein. Nach der Schale kommt dieses Wattezeug hier, das mußt du ganz vorsichtig abziehen.«
»Das dauert ja irre lang!«
»Eben! Das ist genau der Grund, weshalb wir dich brauchen.«
Er war geduldig. Anschließend erklärte er ihr, wie man mit einem feuchten Handtuch Pfifferlinge putzt und wie man die Erde abnibbelt, ohne sie zu beschädigen.
Es machte ihr Spaß. Sie war handwerklich geschickt. Es machte sie rasend, daß sie so viel langsamer war als er, aber es machte ihr Spaß. Die Trauben kullerten ihr durch die Finger, doch sie hatte schnell den Trick raus, wie man sie mit der Messerspitze entkernt.
»Okay, den Rest sehen wir morgen. Der Salat und das andere müßte gehen.«
»Dein Chef wird gleich merken, daß ich nichts kann.«
»Das ist klar! Aber was soll er machen? Was für eine Kleidergröße hast du?«
»Ich weiß nicht.«
»Ich besorg dir Hose und Jacke. Und deine Schuhgröße?«
»40.«
»Hast du Turnschuhe?«
»Ja.«
»Die sind zwar nicht ideal, aber für dieses eine Mal sind die okay.«
Sie drehte sich eine Zigarette, während er die Küche aufräumte.
»Wo ist deine Fete?«
»In Bobigny. Bei einer Kollegin von mir.«
»Es macht dir nichts aus, morgen früh um neun anzufangen?«
»Nein.«
»Ich warn dich schon mal vor, es gibt nur eine kleine Pause. Eine Stunde höchstens. Wir haben morgen keinen Mittagstisch, aber am Abend mehr als sechzig Gedecke. Ein Degustationsmenü für alle. Das wird was geben. Zweihundertzwanzig Euro pro Nase, glaub ich. Ich will versuchen, dich so früh wie möglich loszueisen, aber ich denke, daß du mindestens bis acht Uhr bleiben mußt.«
»Und du?«
»Pff … Daran will ich lieber gar nicht denken. Silvester ist immer eine Strafe. Aber na ja, es ist gut bezahlt. Ich werd übrigens auch für dich richtig was rausschlagen.«
»Ach, das ist nicht das Thema.«
»Doch, doch, das ist das Thema. Das wirst du morgen abend sehen.«
18
»Wir müssen los. Kaffee kriegen wir dort.«
»Aber ich ertrinke ja in der Hose!«
»Macht nix.«
Sie überquerten im Laufschritt den Champ-de-Mars.
Camille war überrascht über das emsige, konzentrierte Treiben, das bereits in der Küche herrschte.
Es war plötzlich so heiß.
»Hier Chef. Ein kleiner Gehilfe, taufrisch.«
Der Chef brummte etwas und scheuchte sie mit dem Handrücken weg. Franck stellte sie einem großen Kerl vor, der noch nicht richtig wach war:
»Also, das hier ist Sébastien. Der ist für die kalte Küche zuständig und heute auch dein Chef de partie und dein big boss, okay?«
»Erfreut.«
»Mmmm.«
»Mit ihm hast du aber gar nichts zu tun, sondern mit seinem Gehilfen.«
Er wandte sich an den Kerl:
»Wie heißt er noch?«
»Marc.«
»Ist er da?«
»In den Kühlräumen.«
»Gut, ich überlaß sie dir.«
»Was kann sie?«
»Nix. Aber du wirst sehen, das macht sie gut.«
Und er verschwand Richtung Spind.
»Hat er dir die Maronen erklärt?«
»Ja.«
»Okay, hier sind sie«, fügte er hinzu und zeigte auf einen riesigen Berg.
»Kann ich mich setzen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»In der Küche wird nicht gefragt, hier heißt es ›ja, Chef‹ oder ›ja, Meister‹.«
»Ja, Chef.«
Ja, Blödmann. Warum hatte sie sich nur darauf eingelassen? Sie wäre viel schneller, wenn sie sitzen dürfte.
Zum Glück machte eine Kaffeekanne die Runde. Sie stellte ihren Becher ins Regal und machte sich an die Arbeit.
Eine Viertelstunde später – ihr taten schon die Hände weh – sprach sie jemand an:
»Alles in Ordnung?«
Sie sah auf und war sprachlos.
Sie erkannte ihn nicht wieder. Blitzsaubere Hose, tadellos gebügelte Jacke, mit zwei Reihen runder Knöpfe und seinem Namen in aufgestickten blauen Lettern, kleines spitz zulaufendes Tuch, makellos weiße Schürze und Geschirrtuch, eine Kochmütze auf dem Kopf, die wie angegossen saß. Nachdem sie ihn bisher ausschließlich in ausgebeulten Klamotten gesehen hatte, fand sie jetzt, daß er sehr gut aussah.
»Was ist?«
»Nichts. Du siehst sehr gut aus.«
Und er, der große Dummkopf, der Angsthase, der Angeber, der kleine Provinzmatador mit der großen Klappe, der dicken Maschine und den tausend Weibern auf seiner Trophäenliste, ja, genau der konnte nicht umhin zu erröten.
»Das macht bestimmt die Uniform«, fügte sie lächelnd hinzu, um ihn aus seiner Verlegenheit zu erlösen.
»Ja, das … das ist es bestimmt.«
Er zog davon, rannte beinahe einen Kollegen über den Haufen und beschimpfte ihn im Vorbeigehen.
Es wurde nicht geredet. Man hörte nur das Tock-Tock der Messer, das Klapp-Klapp des Eßgeschirrs, das Bumm-Bumm der klappernden Türen und das Telefon, das alle fünf Minuten im Büro des Chefs klingelte.
Camille war fasziniert, einerseits darauf bedacht, sich zu konzentrieren, um sich keinen Anschiß einzufangen, und andererseits den Kopf zu heben, um nichts zu verpassen. Franck sah sie nur von weitem und von hinten. Er wirkte größer und ruhiger als sonst. Ihr war, als würde sie ihn nicht kennen.
Leise fragte sie ihren Kollegen beim Gemüseschälen:
»Wofür ist der Franck zuständig?«
»Wer?«
»Lestafier.«
»Er ist der Soßenkoch und überwacht das Fleisch.«
»Ist das schwer?«
Der Picklige rollte mit den Augen:
»Und wie. Das ist das Schwerste. Nach dem Chef und dem Zweiten ist er die Nummer drei der Brigade.«
»Ist er gut?«
»Ja. Blöd, aber gut. Ich würd sogar sagen, er ist genial. Außerdem wirst du sehen, der Chef fragt lieber ihn als den Zweiten. Den Zweiten überwacht er, Lestafier läßt er machen.«
»Aber …«
»Psst.«
Als der Chef in die Hände klatschte, um die Pause anzukündigen, hob sie mit verzerrtem Gesicht den Kopf. Sie hatte Schmerzen im Nacken, im Rücken, an den Händen, in den Beinen, an den Füßen und anderswo auch noch, sie wußte nur nicht mehr, wo.
»Ißt du mit uns?« fragte Franck.
»Muß ich?«
»Nein.«
»Dann mach ich lieber einen Spaziergang an der frischen Luft.«
»Wie du willst. Alles in Ordnung?«
»Ja. Ganz schön heiß. Ihr schuftet ja wahnsinnig.«
»Machst du Witze? Das hier ist nix! Es sind ja nicht mal Gäste da!«
»Ah ja.«
»Kommst du in einer Stunde wieder?«
»Okay.«
»Geh nicht gleich raus, laß dich erst etwas abkühlen, sonst holst du dir den Tod.«
»Gut.«
»Willst du, daß ich mitkomme?«
»Nein, nein. Ich möchte ganz gern allein sein.«
»Du mußt aber was essen, ja?«
»Ja, Papa.«
Er zuckte mit den Schultern: »Tzzz.«
Sie holte sich an einer Touri-Bude ein unappetitliches Panini und setzte sich unterm Eiffelturm auf eine Bank.
Philibert fehlte ihr.
Sie wählte die Nummer seines Schlosses auf ihrem Handy.
»Guten Tag, Aliénor de la Durbellière am Apparat«, sagte eine Kinderstimme. »Mit wem habe ich die Ehre?«
Camille war verdattert.
»Eh … Mit … Könnte ich bitte mit Philibert sprechen?«
»Wir sind bei Tisch. Dürfte ich etwas ausrichten?«
»Ist er nicht da?«
»Doch, aber wir sind bei Tisch. Das sagte ich ja bereits.«
»Ach so, ja. Nein, nichts, richten Sie ihm Grüße aus und ein frohes neues Jahr.«
»Rufen Sie mir noch eben Ihren Namen in Erinnerung?«
»Camille.«
»Camille, wie weiter?«
»Mehr nicht.«
»Schön. Auf Wiederhören, Frau Mehrnicht.«
Auf Wiederhören, du Klugscheißerin.
Was sollte das? Was war das für ein Getue?
Der arme Philibert …
»Fünfmal in frisches Wasser?«
»Ja.«
»Dann ist er aber auch sauber!«
»Das gehört sich so.«
Camille brachte Stunden damit zu, den Salat zu waschen und zu putzen. Jedes Blatt mußte umgedreht, der Größe nach sortiert und mit der Lupe inspiziert werden. Solche Blätter hatte sie noch nie gesehen, es gab sie in allen Größen, Formen und Farben.
»Was ist das hier?«
»Portulak.«
»Und das hier?«
»Spinatblätter.«
»Und die?«
»Rucola.«
»Und das?«
»Eiskraut.«
»Oh, was für ein schöner Name.«
»Wo kommst du denn her?« fragte ihr Kollege.
Sie insistierte nicht weiter.
Anschließend putzte sie Küchenkräuter und trocknete sie einzeln mit Küchenpapier ab. Sie legte sie in kleine Auflaufformen aus rostfreiem Metall und verschloß sie sorgfältig mit Frischhaltefolie, bevor sie sie in verschiedene Kühlschränke verteilte. Sie knackte Walnüsse und Haselnüsse, schälte Feigen, nibbelte eine große Menge Pfifferlinge ab und rollte zwischen zwei geriffelten Schabern kleine Butterkügelchen. Sie mußte sehr aufpassen, auf jede Untertasse ein Kügelchen Süßrahmbutter und ein Kügelchen gesalzene Butter zu legen. Einmal war sie sich unsicher und mußte ein Kügelchen mit der Messerspitze probieren. Würg, sie aß überhaupt nicht gern Butter und war anschließend doppelt aufmerksam. Die Kellner verteilten auf Wunsch Espresso, und es war zu spüren, wie der Druck von Minute zu Minute wuchs.
Manche machten den Mund nicht mehr auf, andere fluchten vor sich hin, und der Chef übernahm die Aufgabe einer sprechenden Uhr:
»Siebzehn Uhr achtundzwanzig, meine Herren … Achtzehn Uhr drei, meine Herren … Achtzehn Uhr siebzehn, meine Herren« … Als wäre ihm daran gelegen, sie maximal zu stressen.
Sie hatte nichts mehr zu tun, lehnte sich an ihren Arbeitstisch und hob abwechselnd die Füße hoch, um die Beine zu entlasten. Der Typ neben ihr übte sich darin, neben einer Scheibe Gänseleber auf rechteckigen Tellern mit Soße Arabesken zu formen. Anmutig schüttelte er einen kleinen Löffel und seufzte beim Versuch, eine Zickzacklinie zu kreieren. Es gelang ihm nicht. Dennoch war es schön.
»Was willst du machen?«
»Ich weiß nicht. Was Originelles.«
»Darf ich mal?«
»Nur zu.«
»Ich habe Angst, es zu vermasseln.«
»Nein, nein, mach nur, das ist ein alter Fond, der ist nur zum Üben.«
Die ersten vier Versuche fielen jämmerlich aus, beim fünften Mal hatte sie den Dreh raus.
»He, das ist ja klasse, Mann, kannst du das noch mal machen?«
»Nein«, lachte sie, »ich fürchte, nein. Aber … Habt ihr denn keine Spritzbeutel oder so was?«
»Hm.«
»Kleine Teigspritzen?«
»Doch. Sieh mal in der Schublade nach.«
»Füllst du sie mir?«
»Wozu?«
»Ich hab da eine Idee.«
Sie beugte sich vor und malte mit großer Sorgfalt drei kleine Gänse.
Ihr Kollege holte den Chef, um es ihm zu zeigen.
»Was soll der Quatsch? Wir sind doch hier nicht in Disneyland, Kinder!«
Kopfschüttelnd ging er davon.
Camille zuckte kleinlaut mit den Schultern und kümmerte sich wieder um ihren Salat.
»Das hier ist keine Kochkunst. Das ist Kinderkram«, brummte er am anderen Ende des Raums, »und wißt ihr, was das Schlimmste ist? Was mich wirklich anödet? Die Dummköpfe werden es lieben. Heute wollen die Leute das: Kinderkram! Ach, und außerdem ist heute ein Festtag. Hören Sie, Mademoiselle, tun Sie mir den Gefallen und schmieren Sie mir ihren Hühnerhof auf sechzig Teller. Und zwar dalli dalli, Mädchen!«
»Sag ›ja, Chef‹«, flüsterte er ihr zu.
»Ja, Chef!«
»Das schaff ich nie«, jammerte Camille.
»Du machst einfach eins nach dem anderen.«
»Links oder rechts?«
»Links, das macht mehr Sinn.«
»Ein bißchen sehr niedlich, oder?«
»Nee, das ist witzig. Du hast jetzt sowieso keine Wahl mehr.«
»Ich hätte den Mund halten sollen.«
»Prinzip Nummer eins. Wenigstens das hättest du gelernt. Hier, das ist der richtige Saft.«
»Warum ist der rot?«
»Der ist aus Rote Bete. Fang an, ich reich dir die Teller.«
Sie tauschten die Plätze. Sie zeichnete, er schnitt den Block Gänseleber, verteilte ihn, bestreute ihn mit grob geschrotetem Pfeffer und Salz und reichte den Teller einem Dritten, der fachmännisch den Salat anordnete.
»Was machen die anderen?«
»Die gehen essen. Wir essen später. Wir eröffnen den Ball und gehen nach unten, wenn sie dran sind. Hilfst du mir auch mit den Austern?«
»Müssen wir sie öffnen?!«
»Nein, nein, nur anhübschen. Sag mal, hast du die grünen Äpfel geschält?«
»Ja. Die sind hier. Oh Scheiße! Das ist wohl eher ein Puter geworden.«
»Pardon. Ich laß dich jetzt in Ruhe.«
Franck kam bei ihnen vorbei und runzelte die Stirn. Er fand sie reichlich undiszipliniert. Oder reichlich fröhlich.
Das gefiel ihm nicht so recht.
»Ist die Stimmung gut?« fragte er spöttisch.
»Man tut, was man kann.«
»Sag mal, das wird doch nicht etwa aufgewärmt?«
»Warum sagt er das?«
»Vergiß es, das ist was zwischen uns … er sich ums warme Essen kümmert, bildet sich ein, mit einer höheren Mission betraut zu sein, während wir hier immer von oben herab behandelt werden, und wenn wir uns noch so sehr ins Zeug legen. Wehe, wir nähern uns auch nur dem Feuer. Kennst du den Lestafier gut?«
»Nein.«
»Ah ja, hätte mich auch gewundert.«
»Warum?«
»Nur so.«
Während die anderen essen waren, wischten zwei Schwarze mit Unmengen Wasser den Boden und gingen mehrmals mit Schiebern drüber, um ihn so schnell wie möglich wieder zu trocknen. Der Chef unterhielt sich mit einem hocheleganten Typ in seinem Büro.
»Ist das ein Gast?«
»Nein, das ist der Oberkellner.«
»Nein, der ist ja schick.«
»Im Saal sehen sie alle gut aus. Bevor’s losgeht, sind wir die Sauberen, und sie jagen im T-Shirt noch den Staubsauger über den Boden, aber je später es wird, um so mehr kippt das Ganze: Unsereiner stinkt, wird immer schmuddeliger, und sie stolzieren wie die Pfauen mit ihren Fönfrisuren und ihren tadellosen Anzügen durch die Gegend.«
Franck kam vorbei, als sie die letzten Teller garnierte:
»Du kannst jetzt los, wenn du willst.«
»Ach, nö. Ich hab jetzt keine Lust mehr zu gehen. Ich hätte das Gefühl, die Show zu verpassen.«
»Hast du noch was für sie zu tun?«
»Und ob! So viel sie will! Sie kann den Dauerbrenner übernehmen.«
»Was ist das?« fragte Camille.
»Das ist dieses Teil hier, so eine Art Bratrost, der hoch- und runtergeht. Willst du dich um die Toasts kümmern?«
»Kein Problem. Eh … kann ich zwischendurch mal eine qualmen?«
»Nur zu, du kannst nach unten gehen.«
Franck kam mit.
»Alles in Ordnung?«
»Super. Dieser Sébastien ist ja doch ganz nett.«
»Jaaa …«
»…«
»Warum machst du so ein Gesicht?«
»Weil … Ich wollte vorhin mit Philibert sprechen, um ihm ein frohes neues Jahr zu wünschen, und mußte mich von irgendeiner Rotznase abkanzeln lassen.«
»Warte, ich ruf ihn an.«
»Nein. Die sind um diese Zeit bestimmt wieder bei Tisch.«
»Laß mich nur machen.«
»Hallo … Entschuldigen Sie bitte die Stööörung, Franck de Lestafier am Apparat, der Mitbewohner von Philibert … Ja … So ist es … Guten Tag … Dürfte ich ihn bitte persööönlich sprechen, es geht um den Heißwasserboiler … Ja … Genau … auf Wiederhööör’n.«
Er zwinkerte Camille zu, die lachte und den Rauch ausstieß.
»Philou! Bist du’s, Häschen? Ein frohes neues Jahr, Alter! Ich geb dir kein Küßchen, sondern deine kleine Prinzessin. Was? Ach, der Heißwasserboiler interessiert uns nicht die Bohne! Also, frohes neues Jahr, gute Gesundheit und viele Küßchen an deine Schwestern. Aber nur die mit großen Titten, klar?«
Camille nahm den Hörer und kniff die Augen zusammen. Nein, der Heißwasserboiler war in Ordnung. Ja, ich Sie auch. Nein, Franck hatte sie nicht in einen Schrank gesperrt. Ja, sie dachte auch ganz oft an ihn. Nein, sie war noch nicht zur Blutuntersuchung. Ja, Ihnen auch, Philibert, ich wünsche Ihnen alles Gute.
»Er klang gut, oder?« fügte Franck hinzu.
»Er hat nur achtmal gestottert.«
»Sag ich doch.«
Als sie wieder auf ihre Plätze zurückkehrten, drehte sich der Wind. Diejenigen, die ihre Kochmütze noch nicht aufgesetzt hatten, holten dies jetzt nach, und der Chef stützte seinen Bauch auf die Durchreiche und verschränkte die Arme darauf. Es war mucksmäuschenstill.
»An die Arbeit, meine Herren.«
Es war, als erhitzte sich der Raum um ein Grad pro Sekunde. Alle rannten geschäftig hin und her und waren darauf bedacht, niemandem im Weg zu stehen. Die Gesichter waren angespannt. Hier und da waren halb unterdrückte Flüche zu hören. Manche blieben eher ruhig, andere, wie dieser Japaner hier, schienen kurz vor der Implosion zu stehen.
Die Ober warteten in einer langen Schlange vor der Durchreiche, während sich der Chef über jeden Teller beugte und ihn genauestens prüfte. Der Junge ihm gegenüber hatte ein winziges Schwämmchen in der Hand, um etwaige Fingerabdrücke oder Soßenspuren abzuwischen, und sobald der Dicke nickte, nahm ein Ober das große Silbertablett mit zusammengebissenen Zähnen auf.
Camille kümmerte sich mit Marc um die Appetithäppchen. Sie arrangierte irgendwelche Zutaten auf Tellern, kleine Scheibchen oder Schalen von irgendwas Rötlichem. Sie traute sich nicht, noch mehr Fragen zu stellen. Anschließend verteilte sie Schnittlauchhalme.
»Schneller, wir haben heut abend nicht die Zeit, an jedem einzelnen Ding rumzubasteln.«
Sie suchte sich eine Schnur, um ihre Hose hochzubinden, und fluchte, weil ihr die Kochmütze ständig in die Augen rutschte. Ihr Kollege holte eine kleine Klammer aus seinem Messerkoffer:
»Hier.«
»Danke.«
Dann lauschte sie einem Ober, der ihr erklärte, wie man das leicht gesüßte Hefebrot zu Dreiecken toastete und die Ränder abschnitt:
»Wie stark sollen sie denn getoastet sein?«
»Tja, goldbraun halt.«
»Komm, mach mir mal eins vor. Zeig mir genau die Farbe, die du haben willst.«
»Die Farbe, die Farbe. Das sieht man doch nicht an der Farbe, das hat man im Gefühl.«
»Schön, aber ich funktionier halt mal mit Farben, also mach mir eins vor, sonst streßt mich das zu sehr.«
Sie nahm ihre Mission sehr ernst und ließ sich bei keiner Nachlässigkeit ertappen. Die Kellner holten sich ihre Toasts und ließen sie in eine Serviettenfalte rutschen. Sie hätte gerne ein kleines Kompliment gehört: »Mensch, Camille, was für herrliche Toasts du uns machst!« Aber nun gut …
Franck sah sie nur von hinten, er hantierte am Herd wie ein Schlagzeuger an seinem Instrument: ein Deckel hier, ein Deckel da, ein Löffelchen hier, ein Löffelchen da. Der große Hagere, der Zweite, nach allem, was sie verstanden hatte, stellte ihm unablässig Fragen, auf die er nur selten und lautmalerisch antwortete. Seine Töpfe waren alle aus Kupfer, und er mußte ein Geschirrtuch zur Hilfe nehmen, um sie anzufassen. Er schien sich mehrmals zu verbrennen, denn sie sah, wie er die Hand schüttelte und sie dann zum Mund führte.
Der Chef war erregt. Es ging ihm nicht schnell genug. Es ging ihm zu schnell. Es war nicht heiß genug. Es war verkocht. »Konzentration, meine Herren, Konzentration!« wiederholte er unaufhörlich. Je ruhiger es bei ihnen wurde, um so mehr wurde gegenüber rangeklotzt. Es war beeindruckend. Sie sah, wie sie schwitzten und sich wie Katzen den Kopf an der Schulter abrieben, um sich die Stirn zu trocknen. Vor allem der Typ am Grill war feuerrot und nuckelte ständig an einer Wasserflasche, wenn er zwischen seinen Vögeln hin- und herlief. (Viechern mit Flügeln, manche deutlich kleiner als ein Hähnchen, andere doppelt so groß.)
»Hier vergeht man ja … ie heiß ist es hier, was meinst du?«
»Keine Ahnung. Dort drüben bei den Feuerstellen sind es mindestens vierzig Grad. Vielleicht auch fünfzig? Körperlich sind das die härtesten Plätze. Hier, bringst du das zum Spülen. Und paß auf, daß du niemandem in den Weg läufst.«
Sie sperrte die Augen auf, als sie die Berge von Töpfen, Backblechen, Brätern, Metallschüsseln, Sieben und Pfannen sah, in den riesigen Spülbecken gleichmäßig verteilt. Hier war weit und breit kein Weißer mehr zu sehen, und der kleine Mann, an den sie sich wandte, nahm ihr die Sachen mit einem Kopfnicken aus der Hand. Offensichtlich verstand er kein Wort Französisch. Camille blieb einen Moment stehen und sah ihm zu, und wie immer, wenn sie sich einem dieser Entwurzelten vom anderen Ende der Welt gegenübersah, begannen ihre billigen kleinen Mutter-Teresa-Lämpchen wie wild zu blinken: Wo kam er her? Aus Indien? Aus Pakistan? Und was hatte er erlebt, daß er jetzt hier war? Heute? Welche Boote? Welche Verkehrswege? Welche Hoffnungen? Zu welchem Preis? Unter welchem Verzicht, mit welchen Ängsten? Was für eine Zukunft? Wo lebte er? Mit wie vielen Menschen? Und wo waren seine Kinder?
Als sie merkte, daß ihre Anwesenheit ihn nervös machte, zog sie kopfschüttelnd davon.
»Wo kommt der Tellerwäscher her?«
»Aus Madagaskar.«
Erster Flop.
»Spricht er französisch?«
»Na klar! Er ist seit zwanzig Jahren hier!«
Ab in die Ecke, du Scheinheilige.
Sie war müde. Es gab ständig etwas Neues zu schälen, zu schneiden, zu putzen oder aufzuräumen. Was für ein Chaos. Wie schafften es die Leute bloß, das alles zu verschlingen? Wozu sollte es gut sein, sich die Wampe so vollzuschlagen? Sie würden ja platzen! 220 Euro, wieviel war das? Fast 1500 Franc. Pff … Was man für das Geld alles kaufen könnte. Wenn man es geschickt anstellte, konnte man damit sogar eine kleine Reise unternehmen. Nach Italien zum Beispiel. Sich auf die Terrasse eines kleinen Cafés setzen und sich von der Unterhaltung hübscher junger Mädchen einlullen lassen, die sich bestimmt die gleichen albernen Geschichten erzählten wie alle Mädchen auf der Welt, wobei sie kleine, dicke Kaffeetassen an den Mund führten, deren Inhalt immer ein wenig zu süß war.
All die Skizzen, die Plätze, die Gesichter, die lethargischen Katzen und die phantastischen Sachen, die man für dieses Geld bekommen konnte. Bücher, Platten, sogar Klamotten, die ein ganzes Leben lang hielten, während das hier in ein paar Stunden vorbei wäre, verzehrt, verdaut und ausgeschieden.
Es war nicht richtig, so zu denken, das wußte sie. So viel Durchblick besaß sie. Sie hatte als Kind aufgehört, sich für die Nahrung zu interessieren, weil die Mahlzeiten zum Synonym allzu großen Leidens geworden waren. Erdrückende Momente für ein kleines sensibles Einzelkind. Ein kleines Mädchen, allein mit seiner Mutter, die wie ein Schlot rauchte und einen Teller mit lieblos zubereitetem Essen auf den Tisch knallte: »Iß! Das ist gut für die Gesundheit!« fügte sie noch hinzu und steckte sich dabei eine Zigarette an. Allein mit ihren Eltern hielt sie den Kopf nach Möglichkeit gesenkt, um ihnen nicht ins Netz zu gehen: »Na, Camille, dein Papa fehlt dir, wenn er nicht da ist, stimmt’s?«
Danach war es zu spät. Sie hatte die Freude daran verloren. Irgendwann hatte ihre Mutter sowieso nicht mehr gekocht. Sie hatte sich einen Spatzenhunger zugezogen, wie andere Akne bekamen. Alle waren ihr damit auf den Geist gegangen, aber sie hatte sich gut aus der Affäre gezogen. Sie hatte sich nicht erwischen lassen, denn die Kleine war viel zu gerissen. Sie wollte an der kläglichen Welt der Großen nicht mehr teilhaben, aber wenn sie Hunger hatte, aß sie. Natürlich aß sie, sonst wäre sie heute nicht hier! Nur ohne die anderen. In ihrem Zimmer. Joghurts, Obst oder Müsli und tat etwas anderes nebenbei. Sie las, sie träumte, sie malte Pferde oder schrieb Liedertexte von Jean-Jacques Goldman ab.
Envole-moi.
Ja, sie kannte ihre Schwächen, und es war dumm von ihr, diejenigen zu verurteilen, die das Glück hatten, bei Tisch glücklich zu sein. Aber trotzdem … 220 Euro für eine einzige Mahlzeit, ohne Getränke, das war doch echt beknackt, oder?
Um Mitternacht wünschte ihnen der Chef ein frohes neues Jahr und schenkte allen ein Glas Champagner ein:
»Frohes neues Jahr, Mademoiselle, und danke für die Enten. Charles hat mir erzählt, die Gäste seien hin und weg gewesen. Ich hab’s gewußt, leider. Frohes neues Jahr, Monsieur Lestafier. Sollten Sie 2004 Ihren miesen Charakter etwas ändern, steigen Sie auf …«
»Wieviel gibt’s dann mehr, Chef?«
»Oh! Sie gehen aber ran! Sie steigen auf … in meiner Achtung!«
»Frohes neues Jahr, Camille. Wir … du … Gibt’s kein Küßchen?«
»Doch, doch, natürlich gibt’s ein Küßchen!«
»Und ich?« fragte Sébastien.
»Und ich?« fügte Marc hinzu. »He, Lestafier! Spring schnell zu deinem Klavier, dort läuft was über!«
»Ja klar, Herr Oberschlaumeier. Okay. Sie ist doch jetzt fertig, oder? Dann kann sie sich ja vielleicht mal setzen?«
»Sehr gute Idee, kommen Sie mit in mein Büro, Mademoiselle«, fügte der Chef hinzu.
»Nix da, ich will bis zum Schluß bleiben. Gibt es nicht noch irgendwas für mich zu tun?«
»Tja, jetzt warten wir nur noch auf den Konditor. Du kannst ihm beim Verzieren helfen.«
Sie setzte Mandelblättchen zusammen, dünn wie Zigarettenpapier, auf tausenderlei Art gehärtet, geriffelt, gespickt, spielte mit Schokoladenraspeln, Orangenschalen, kandierten Früchten, Arabesken aus Fruchtsoße und glacierten Maronen. Der Konditorgehilfe sah ihr tatenlos zu. Er wiederholte immer wieder: »Sie sind ja eine Künstlerin! Eine wahre Künstlerin!« Der Chef sah diese Extravaganzen mit anderen Augen: »Okay, für heute abend mag es durchgehen, aber Ästhetik ist nicht alles. Wir kochen schließlich nicht nur, damit es schön aussieht!«
Camille lächelte und verzierte die englische Creme mit roter Fruchtsoße.
Leider nein. Ästhetik war nicht alles! Das wußte sie nur zu gut.
Gegen zwei legte sich der Sturm. Der Chef gab seine Champagnerflasche nicht mehr aus der Hand, und ein paar Köche hatten ihre Mützen abgenommen. Sie waren allesamt erschöpft, gaben aber ein letztes Mal alles, um ihren Platz zu säubern und so schnell wie möglich zu verschwinden. Kilometer an Frischhaltefolie gingen drauf, um alles einzupacken, und vor den Kühlräumen herrschte dichtes Gedränge. Viele kommentierten den Einsatz und analysierten ihren Auftritt: Was sie vermasselt hatten und warum, wessen Schuld es gewesen war, und wie gut die Sachen gelungen waren. Wie Sportler, die noch dampften, konnten sie nicht abschalten und beackerten mit aller Kraft ihren Platz, um ihn auf Hochglanz zu polieren. Sie hatte den Eindruck, daß sie damit Dampf abließen, um nicht ganz dabei draufzugehen.
Camille half ihnen bis zum Schluß. Sie kauerte vor einem Kühlschrank und wischte ihn von innen aus.
Dann lehnte sie sich an die Wand und beobachtete das Gedränge der Jungs um die Kaffeemaschinen. Einer schob einen riesigen Wagen mit göttlichen Leckereien herein, Pralinen, Schaumzucker, Konfitüren, Mini-Cannelés, Madeirasoße und so weiter. Hmm, sie hatte Lust auf eine Zigarette.
»Du kommst zu spät zu deinem Fest.«
Sie drehte sich um und sah einen alten Mann.
Franck bemühte sich, die Fassung zu bewahren, aber er war am Ende, verschwitzt, gekrümmt, aschfahl, er hatte rote Augen und sah mitgenommen aus.
»Du siehst um zehn Jahre gealtert aus.«
»Schon möglich. Ich bin todmüde. Hab schlecht geschlafen, und außerdem mag ich diese Festessen nicht. Immer dieselbe Leier. Soll ich dich in Bobigny absetzen? Ich hab noch einen zweiten Helm. Ich muß nur noch meine Bestellungen abgeben, dann können wir los.«
»Nein, mir ist überhaupt nicht mehr danach. Die sind bestimmt alle sternhagelvoll, bis ich ankomme. Das Schöne ist doch, sich gemeinsam mit den anderen zu betrinken, sonst ist es nur deprimierend.«
»Nein, ich will auch lieber nach Hause, ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.«
Sébastien unterbrach sie:
»Wir warten noch auf Marco und Kermadec und treffen uns unten?«
»Nee, ich bin kaputt. Ich geh nach Hause.«
»Und du, Camille?«
»Sie ist auch kap…«
»Überhaupt nicht«, fiel sie ihm ins Wort, »das heißt, doch, aber ich habe trotzdem Lust zu feiern!«
»Bist du sicher?« fragte Franck.
»Na klar, wir müssen doch das neue Jahr begrüßen. Auf daß es besser wird als das alte, oder?«
»Ich dachte, du hättest keinen Bock auf Fete.«
»Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern. Das hier ist mein erster guter Vorsatz fürs neue Jahr: ›2003 war alles einerlei, 2004 gönn ich mir ein Plaisir!‹«
»Wohin gehn wir?« fragte Franck seufzend.
»Zu Ketty.«
»Ach nee, nicht dahin. Du weißt doch.«
»Okay, dann halt zu La Vigie.«
»Da auch nicht.«
»He ho, Lestafier, du nervst. Nur weil du alle Bedienungen im Umkreis abgeschleppt hast, können wir nirgendwo mehr hin! Welche war’s denn bei Ketty? Die Dicke, die gelispelt hat?«
»Die hat nicht gelispelt!« gab Franck entrüstet zurück.
»Nee, besoffen hat sie ganz normal geredet, aber nüchtern hat sie gelispelt, sag ich dir. Okay, aber egal, die arbeitet nicht mehr da.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Und die Rothaarige?«
»Die auch nicht. He, aber das kann dir doch egal sein, du bist doch jetzt mit ihr zusammen, oder?«
»Nix da, er ist doch nicht mit mir zusammen!« Camille war empört.
»Gut … eh … Macht ihr das unter euch aus, wir sind jedenfalls da, sobald wir hier fertig sind.«
»Willst du noch mitkommen?«
»Ja. Aber ich würd gern vorher duschen.«
»Okay. Ich wart auf dich. Ich geh jetzt nicht in die Wohnung, sonst brech ich zusammen.«
»Du?«
»Was?«
»Vorhin hast du mir kein Küßchen gegeben …«
»Bitte schön«, sagte sie und drückte ihm ein Küßchen auf die Stirn.
»Ist das alles? Ich dachte, 2004 gönnst du dir ein Plaisir?«
»Hast du dich schon mal an deine Vorsätze gehalten?«
»Nein.«
»Ich auch nicht.«
19
Weil sie weniger erschöpft war als die anderen oder weil sie den Alkohol besser vertrug, mußte sie bald etwas anderes als Bier bestellen, um mit den Witzen Schritt halten zu können. Sie hatte das Gefühl, zehn Jahre zurückversetzt worden zu sein, in eine Zeit, da ihr gewisse Dinge noch selbstverständlich vorkamen. Die Kunst, das Leben, die Zukunft, ihr Talent, ihr Schatz, ihr Platz, ihr Serviettenring hier unten und der ganze Quark.
Meine Güte, so unangenehm war es doch gar nicht.
»He, Franck, trinkst du heut abend nix?«
»Ich bin tot.«
»Komm schon, du doch nicht. Hast du nicht jetzt sogar Urlaub?«
»Doch.«
»Und?«
»Ich werd alt.«
»Los, trink. Schlafen kannst du morgen.«
Halbherzig hielt er sein Glas hin: Nein, morgen würde er nicht schlafen. Morgen würde er in Die Wiedergefundene Zeit fahren, dem Tierschutzverein für die Alten, mit zwei oder drei einsamen Omis, die mit ihrem Gebiß klapperten, gräßliche Pralinen futtern, während seine eigene seufzend aus dem Fenster sah.
Sobald er auf die Autobahn bog, hatte er Bauchschmerzen.
Er wollte lieber nicht daran denken und leerte sein Glas in einem Zug.
Verstohlen betrachtete er Camille. Ihre Sommersprossen waren je nach Uhrzeit zu sehen oder nicht, ein seltsames Phänomen.
Sie hatte gesagt, er sähe gut aus, und jetzt war sie dabei, den großen Knallkopf da anzubaggern, pff … sie waren alle gleich.
Franck Lestafier hing irgendwie durch.
Ihm war zum Heulen.
Na? Ist was nicht in Ordnung, Großer?
Eh … Wo soll ich anfangen?
Ein Scheißjob, ein Scheißleben, eine Oma im Westen und ein Umzug in Aussicht. Wieder auf einem ramponierten Schlafsofa pennen, in jeder Pause eine Stunde verlieren. Nie mehr Philibert sehen. Ihn nie mehr provozieren, damit er lernt, sich zu wehren, zurückzuschlagen, sich aufzuregen, sich schließlich durchzusetzen. Ihn nie wieder mein Zuckersüßer nennen. Ihm nie wieder was Gutes zu essen auf die Seite packen. Nie mehr mit seinem königlichen Bett und seinem Prinzessinnenbad bei den Weibern Eindruck schinden. Nie mehr den beiden lauschen, ihm und Camille, wie sie über den Ersten Weltkrieg redeten, als wären sie dabeigewesen, oder über Ludwig XI., als hätte er ein Gläschen mit ihnen getrunken. Nie wieder auf sie warten, nie wieder die Nase in die Luft strecken, wenn er die Tür aufschloß, um am Zigarettengeruch zu erkennen, ob sie schon da war. Sich nie wieder auf ihr Skizzenheft stürzen, sobald sie ihm den Rücken gekehrt hatte, um die neuesten Zeichnungen zu bestaunen. Nie wieder beim Einschlafen den angestrahlten Eiffelturm sehen, der über ihn wachte. Und dann in Frankreich bleiben, bei jeder Schicht ein Kilo verlieren, das er hinterher in Bier wieder ansetzte. Weiterhin gehorchen. Immer. Die ganze Zeit. Was anderes hatte er noch nie gemacht. Und jetzt saß er fest, bis … Los, sag schon, bis wann, sag schon! Ja genau, so ist es … Bis sie ins Gras beißt. Als würde ihr Leben nur in Ordnung kommen, wenn er noch mehr litt.
Verflucht, es reicht! Könnt ihr euch nicht einen anderen aussuchen? Ist doch wahr, ich bin bedient.
Meine Stiefel sind voller Scheiße, Leute, guckt doch mal nach, ob ich nicht woanders bin. Schnauze voll. Ich hab genug geblecht.
Sie gab ihm unterm Tisch einen Tritt:
»He, alles in Ordnung?«
»Frohes, neues Jahr«, sagte er.
»Stimmt was nicht?«
»Ich geh schlafen. Tschüß.«
20
Sie blieb auch nicht mehr lange. Diese Typen waren nicht gerade die hellsten … Sie wiederholten in einem fort, was für eine beschissene Arbeit sie hatten … he … und zu Recht. Und außerdem fing dieser Sébastien an, ihr auf die Pelle zu rücken. Wenn er eine Chance hätte haben wollen, mit ihr zu schlafen, hätte er gleich heute morgen nett zu ihr sein müssen, der Blödmann. Daran erkennt man die wirklich Guten: daß sie schon nett sind, bevor sie daran denken, einen flachzulegen …
Sie fand ihn zusammengekauert auf dem Kanapee.
»Schläfst du?«
»Nein.«
»Stimmt was nicht?«
»2004 verschwind ich von hier«, stöhnte er.
Sie lächelte:
»Sehr gut.«
»Von wegen, seit drei Stunden such ich nach dem passenden Reim. Ich hab schon überlegt: 2004 bin ich voller Bier, aber du würdest wahrscheinlich meinen, daß ich gleich kotze …«
»Was für ein wunderbarer Dichter du bist.«
Er schwieg. Er war zu müde, um mitzuspielen.
»Leg uns noch mal so schöne Musik auf wie neulich.«
»Nein. Wenn du schon traurig bist, bringt das nichts.«
»Wenn du deine Castafiore auflegst, bleibst du dann noch ein bißchen?«
»Eine Zigarettenlänge.«
»Einverstanden.«
Und zum hundertachtundzwanzigsten Mal in dieser Woche legte Camille das Nisi Dominus von Vivaldi auf.
»Worum geht’s da?«
»Moment, ich sag’s dir gleich. Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf.«
»Genial.«
»Das ist schön, oder?«
»Keine Aaahnung«, gähnte er. »Davon versteh ich nix.«
»Witzig, das hast du letztens schon bei Dürer gesagt. Aber das kann man auch nicht lernen! Es ist schön … fertig, aus.«
»Doch, doch. Ob du’s glaubst oder nicht, das kann man lernen.«
»…«
»Bist du gläubig?«
»Nein. Das heißt, ja. Wenn ich diese Art von Musik höre, wenn ich eine schöne Kirche betrete oder wenn ich ein Gemälde sehe, das mich berührt, eine Mariä Verkündigung zum Beispiel, schwillt mir das Herz so sehr, daß ich das Gefühl habe, an Gott zu glauben, aber damit liege ich daneben: Ich glaube an Vivaldi. An Vivaldi, an Bach, an Händel oder an Fra Angelico. Sie sind die eigentlichen Götter. Der andere, der Alte, ist nur ein Vorwand. Das ist übrigens meiner Meinung nach das einzig Gute an ihm: daß er stark genug war, um sie alle zu solchen Meisterwerken zu inspirieren.«
»Ich mag es, wenn du mir was erzählst. Dann hab ich das Gefühl, intelligenter zu werden.«
»Hör auf.«
»Doch, das stimmt.«
»Du hast zu viel getrunken.«
»Nee, eher zu wenig.«
»Hier, hör zu. Das ist eine schöne Stelle … viel fröhlicher. Das ist es übrigens, was mir an diesen Messen so gefällt: die fröhlichen Momente, wie das Gloria und all so was, die ziehen dich immer aus dem Wasser, wenn du grad abgesoffen bist. Wie im richtigen Leben.«
Langes Schweigen.
»Schläfst du?«
»Nein, ich warte, bis deine Zigarette zu Ende ist.«
»Weißt du, ich …«
»Was?«
»Ich finde, du solltest bleiben. Ich finde, alles, was du mir im Zusammenhang mit meinem Auszug über Philibert gesagt hast, gilt auch für dich. Ich glaube, daß er sehr traurig wäre, wenn du gehst, und daß du sein fragiles Gleichgewicht gleichermaßen austarierst.«
»Eh … den letzten Satz, könntest du den noch mal auf französisch wiederholen?«
»Bleib hier.«
»Nein … Ich … ich bin zu anders als ihr. Man packt nicht Geschirrtücher mit Frottee zusammen, wie meine Oma sagen würde.«
»Wir sind verschieden, das stimmt, aber bis wohin? Vielleicht sehe ich es ja falsch, aber ich habe den Eindruck, wir sind ein gutes Team Schwergebeutelter, oder?«
»Was du nicht sagst.«
»Und außerdem, was soll das heißen, verschieden? Ich, die ich nicht mal ein Ei kochen kann, habe den ganzen Tag in der Küche verbracht, und du, der du sonst nur Techno hörst, schläfst zu Vivaldi ein. Das ist Blödsinn, deine Geschichte von den Geschirrtüchern und dem Frottee. Was die Leute davon abhält, zusammenzuleben, ist ihre Dummheit, nicht ihre Verschiedenheit. Im Gegenteil, ohne dich wüßte ich heute nicht, wie ein Blatt Portulak aussieht.«
»Was immer dir das bringt.«
»Das ist auch Quatsch. Warum sollte es mir ›was bringen‹? Warum muß sich denn immer alles lohnen? Mir ist scheißegal, ob es mir was bringt oder nicht, es macht mir Spaß zu wissen, daß es so was gibt …«
»Da siehst du, wie verschieden wir sind. Du oder Philou, ihr seid nicht in der wirklichen Welt, ihr habt keine Ahnung vom Leben, wie man sich durchschlagen muß, um zu überleben und so. Ich hab vor euch noch nie irgendwelche Intellektuellen gekannt, aber ihr seid genauso, wie ich sie mir immer vorgestellt habe.«
»Und wie hast du sie dir vorgestellt?«
Er wedelte mit den Händen:
»So: Putt putt … Oh ihr kleinen Vögelein und ihr schönen Schmetterlinge! Putt putt, was seid ihr niedlich. Lesen Sie doch noch ein Kapitel, mein Lieber? Aber ja doch, meine Liebe, zwei sogar! Dann bleibt es mir erspart, hinabzusteigen. Oh! Nein! Steigen Sie nicht hinab, dort unten stinkt es zu sehr!«
Sie stand auf und machte die Musik aus.
»Du hast recht, wir werden es nicht schaffen. Es ist besser, du verschwindest. Aber laß mich noch zwei Sachen sagen, bevor ich dir alles Gute wünsche: Erstens, das mit den Intellektuellen. Es ist leicht, sich über sie lustig zu machen. Ja, sehr leicht. Häufig sind sie nicht besonders muskulös, und sie prügeln sich auch nicht gern. Das Stampfen von Stiefeln, Medaillen, große Limousinen kann sie nicht groß bewegen, es ist also nicht sehr schwer. Es genügt, ihnen ihr Buch zu entreißen, ihre Gitarre, ihren Stift oder ihren Fotoapparat, und schon sind sie zu nichts mehr zu gebrauchen, diese unbeholfenen Tolpatsche. Übrigens, das ist das erste, was die meisten Diktatoren machen: Brillen kaputtreten, Bücher verbrennen oder Konzerte verbieten, das kostet sie nicht viel und kann ihnen in der Folge viele Unannehmlichkeiten ersparen. Aber du siehst, wenn intellektuell sein heißt, sich zu bilden, neugierig zu sein und aufmerksam, zu bewundern, erschüttert zu sein, verstehen zu wollen, wie alles zusammenhängt, damit man etwas weniger dumm ins Bett geht als am Abend zuvor, dann fordere ich dies für mich ein: Nicht nur bin ich dann eine Intellektuelle, ich bin auch noch stolz darauf. Sehr stolz sogar. Und weil ich eine Intellektuelle bin, wie du sagst, kann ich nicht umhin, deine Motorradzeitschriften zu lesen, die auf dem Klo rumliegen, und ich weiß, daß die neue BMW R 1200 GS ein kleines elektronisches Teil hat, um mit billigem Benzin zu fahren, jawohl!«
»Was faselst du denn da?«
»Und intellektuell, wie ich bin, habe ich neulich deine Comics von Joe Bar Team stibitzt und den ganzen Nachmittag glucksend darüber verbracht. Zweitens, bist du grad der Richtige, um uns eine Predigt zu halten, mein Lieber. Du glaubst, deine Küche sei die wahre Welt? Von wegen. Im Gegenteil. Ihr kommt ja nie raus, ihr seid immer unter euch. Was kennst du von der Welt? Nichts. Seit mehr als fünfzehn Jahren lebst du eingesperrt in deinen unverrückbaren Arbeitszeiten, deiner kleinen billigen Hierarchie und deinem täglichen Gerödel. Vielleicht hast du dir deine Arbeit deshalb ausgesucht? Um nie den Bauch deiner Mutter zu verlassen und die Sicherheit zu haben, daß du immer im Warmen bist und genug zu essen um dich hast. Wer weiß? Du arbeitest mehr und härter als wir, das ist offensichtlich, aber wir, intellektuell, wie wir sind, wir halsen uns die Welt auf. Putt putt, wir steigen jeden Morgen herab. Philibert in seinen Laden und ich in meine Etagen, und sei ganz unbesorgt, ob wir uns damit auseinandersetzen – wir setzen uns damit auseinander. Und dein Geschwafel vom Überleben … Life is a jungle, struggle for life und diesen ganzen Schwachsinn, den kennen wir auswendig. Wir könnten dir darin sogar Unterricht geben, wenn du willst. So und jetzt guten Abend, gute Nacht und frohes neues Jahr.«
»Pardon?«
»Nichts. Ich hab nur gesagt, daß du nicht sehr plaisirlich bist.«
»Nein, ich bin elegisch.«
»Was heißt das?«
»Schlag in einem Wörterbuch nach, dann weißt du’s.«
»Camille?«
»Ja.«
»Sag mir was Nettes.«
»Warum?«
»Damit das Jahr gut anfängt.«
»Nein. Ich bin keine Jukebox.«
»Komm schon.«
Sie drehte sich um:
»Laß die Geschirrtücher und das Frottee in derselben Schublade, das Leben ist viel netter mit ein bißchen Chaos.«
»Und ich? Willst du nicht auch, daß ich dir was Nettes sage, damit das Jahr gut anfängt?«
»Nein. Doch. Schieß los.«
»Weißt du … Deine Toasts, die waren absolut phantastisch …«
TEIL 3
1
Es war kurz nach elf, als er am nächsten Morgen in ihr Zimmer kam. Sie kehrte ihm den Rücken zu. Sie saß am Fenster, noch im Kimono.
»Was machst du? Malst du?«
»Ja.«
»Was malst du?«
»Den ersten Tag des Jahres.«
»Zeig mal.«
Sie hob den Kopf und biß sich von innen auf die Wangen, um nicht zu lachen.
Er trug einen extrem unmodischen Anzug, Stil Hugo Boss der achtziger Jahre, etwas zu groß und etwas zu glänzend, mit Schulterpolstern à la Goldorak, ein Hemd aus senffarbener Viskose und eine bunte Krawatte. Die Socken waren auf das Hemd abgestimmt, und die Schuhe aus salmiakbehandeltem Spaltleder ließen ihn fürchterlich leiden.
»Was ist?« grunzte er.
»Nein, nichts, du bist … Du siehst richtig elegant aus.«
»Sehr witzig. Das ist, weil ich meine Großmutter zum Essen ausführe.«
»Na dann …« prustete sie los, »wird sie irre stolz sein, mit so einem gutaussehenden Mann auszugehen.«
»Sehr witzig. Wenn du wüßtest, wie mich das alles streßt. Na ja, das muß sein.«
»Geht’s um Paulette? Die mit dem Schal?«
»Ja. Darum bin ich auch hier. Hattest du mir nicht gesagt, daß du noch was für sie hast?«
»Doch. Genau.«
Sie stand auf, schob den Sessel zur Seite und wühlte in ihrem kleinen Koffer.
»Setz dich da hin.«
»Warum?«
»Für ein Geschenk.«
»Willst du mich malen?«
»Ja.«
»Das will ich nicht.«
»Warum nicht?«
»…«
»Kannst du es nicht sagen?«
»Ich mag es nicht, wenn man mich beobachtet.«
»Es geht ganz schnell.«
»Nein.«
»Wie du willst. Ich hatte gedacht, ein kleines Porträt von dir würde ihr gefallen. Eine Art Naturalientausch, weißt du? Aber ich besteh nicht darauf. Das tu ich nicht mehr. Das ist nicht meine Art.«
»Na gut, aber schnell, ja?«
»So geht das nicht.«
»Was denn noch?«
»Der Anzug hier, die Krawatte und so, das geht nicht. Das bist nicht du.«
»Willst du, daß ich mich ausziehe?« grinste er.
»Au ja, das wäre toll! Ein schöner Akt«, antwortete sie, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Du machst Spaß?«
Er bekam es mit der Angst.
»Natürlich mach ich Spaß. Du bist viel zu alt! Und außerdem bist du bestimmt ganz behaart.«
»Überhaupt nicht! Überhaupt nicht! Ich hab kein Haar zuviel!«
Sie lachte.
»Komm schon. Zieh wenigstens die Jacke aus und mach die Krawatte auf.«
»Pff … Ich hab drei Stunden gebraucht, um den Knoten hinzukriegen.«
»Sieh mich an. Nee, nicht so. Man könnte meinen, du hättest einen Besen verschluckt, entspann dich … Ich mal dich doch nur, ich freß dich schon nicht, Idiot.«
»Doch, doch«, er blühte auf, »friß mich, Camille, friß mich ruhig.«
»Genau. Behalt dieses dämliche Grinsen. Das ist genau das richtige.«
»Bist du bald fertig?«
»Fast.«
»Ich hab keinen Bock mehr. Erzähl mir was. Erzähl mir eine Geschichte, damit die Zeit vergeht.«
»Von wem soll ich dir diesmal erzählen?«
»Von dir.«
»…«
»Was machst du heute?«
»Aufräumen, ein bißchen bügeln. Und dann gehe ich spazieren. Es ist so schönes Licht. Irgendwann lande ich bestimmt in einem Café oder einer Teestube. Esse Scones mit Heidelbeergelee … hmm. Und mit ein bißchen Glück gibt’s dort einen Hund. Zur Zeit sammle ich die Hunde der Teestuben. Ich habe ein eigenes Heft nur für sie, aus wunderschönem Moleskin. Vorher hatte ich eins für Tauben. Bei Tauben bin ich unschlagbar. Die vom Montmartre, vom Trafalgar Square in London oder vom Markusplatz in Venedig, ich hab sie alle eingefangen.«
»Sag mal …«
»Ja?«
»Warum bist du immer allein?«
»Ich weiß nicht.«
»Magst du keine Männer?«
»Ich hab’s gewußt. Eine Frau, die deinem unwiderstehlichen Charme nicht erliegt, ist zwangsläufig lesbisch, oder was?«
»Nein, nein, ich frag mich nur, das ist alles. Du ziehst dich immer häßlich an, rasierst dir den Schädel kahl, all so was …«
Stille.
»Doch, doch, ich mag Männer. Frauen auch, damit du’s weißt, aber ich bevorzuge Männer.«
»Hast du schon mal mit einer Frau geschlafen?«
»O ja, mehrfach!«
»Machst du Witze?«
»Ja. Okay, fertig. Du kannst dich wieder anziehen.«
»Zeig mal.«
»Du wirst dich nicht erkennen. Die Leute erkennen sich selbst nie.«
»Warum hast du hier einen großen Klecks gemacht?«
»Das ist der Schatten.«
»Ach?«
»Das nennt man lavieren.«
»Aha. Und das hier, was ist das?«
»Deine Koteletten.«
»Ja?«
»Du bist enttäuscht, nicht? Hier, nimm das noch mit. Das ist eine Skizze, die ich neulich gemacht habe, als du mit der Play Station gespielt hast.«
Breites Grinsen:
»Also, das hier ist klasse! Das bin ich!«
»Mir gefällt das andere besser, aber gut. Du brauchst sie zum Transport nur in einen Comic zu stecken.«
»Gib mir ein Blatt.«
»Warum?«
»Darum. Ich kann auch ein Porträt von dir malen, wenn ich will.«
Er betrachtete sie einen Moment, beugte sich über seine Knie, streckte die Zunge heraus und hielt ihr sein Gekritzel hin.
»Und?« fragte sie neugierig.
Er hatte eine Spirale gemalt. Ein Schneckenhaus mit einem kleinen schwarzen Punkt in der Mitte.
Sie reagierte nicht.
»Der kleine Punkt bist du.«
»Ich … Das habe ich verstanden.«
Ihre Lippen zitterten.
Er nahm ihr das Papier aus der Hand:
»Mensch! Camille, das war ein Witz! Nimm das doch nicht ernst! Das war nur Blödsinn!«
»Ja, ja«, stimmte sie zu und faßte sich mit der Hand an die Stirn.
»Nur Blödsinn, das ist mir schon klar. Du mußt los, sonstkommst du zu spät.«
Er streifte sich in der Diele die Motorradkluft über und zog die Tür hinter sich zu, nicht ohne sich vorher auf den Helm zu schlagen.
Der kleine Punkt bist du …
Bescheuert, der Typ.
2
Da er ausnahmsweise einmal keinen Rucksack voller Proviant mitschleppte, legte er sich auf den Tank und ließ die Geschwindigkeit ihre wunderbar reinigende Arbeit verrichten: Beine zusammengepreßt, Arme gestreckt, Brustkorb im Warmen und Helm kurz vorm Zerspringen, drehte er das Handgelenk bis zum Anschlag, um seinen Ärger hinter sich zu lassen und an nichts mehr zu denken.
Er fuhr schnell. Viel zu schnell. Bewußt. Um zu sehen.
Seit er sich erinnern konnte, hatte er einen Motor zwischen den Beinen und eine Art Juckreiz im Handteller, und seit er sich erinnern konnte, betrachtete er den Tod nicht als ein ernst zu nehmendes Problem. Als weitere Unannehmlichkeit höchstens. Wenn überhaupt. Da er sowieso nicht mehr da wäre, um darunter zu leiden, welche Rolle spielte es dann, wirklich?
Kaum hatte er drei Sous in der Tasche, hatte er Schulden gemacht, um sich eine Maschine zu leisten, die für sein Spatzenhirn viel zu groß war, und kaum hatte er drei gewiefte Kumpel an der Hand, hatte er noch mehr ausgegeben, um ein paar Millimeter auf dem Tacho gutzumachen. An der Ampel war er ruhig, hinterließ nie Gummi auf dem Asphalt, maß sich nicht mit anderen und sah keinen Sinn darin, hirnrissige Risiken auf sich zu nehmen. Doch sobald er Gelegenheit hatte, war er auf und davon, holte alles aus der Maschine heraus und bemühte seinen Schutzengel.
Er liebte die Geschwindigkeit. Die liebte er wirklich. Mehr als alles auf der Welt. Mehr noch als die Weiber. Sie hatte ihm die einzigen glücklichen Momente im Leben beschert: Ruhe, Erleichterung, Freiheit. Als er vierzehn war, klammerte er sich an seinen Feuerstuhl wie ein Frosch an eine Streichholzschachtel (so sagte man
damals) und war der König der kleinen Landstraßen der Touraine, mit zwanzig leistete er sich seine erste schwere Maschine, gebraucht, nachdem er den ganzen Sommer über in einem drittklassigen Schuppen bei Saumur rangeklotzt hatte, und heute war es zwischen zwei Schichten sein einziger Zeitvertreib: von einem Bike träumen, es kaufen, es auf Hochglanz polieren, alles aus ihm rausholen, von einem anderen Bike träumen, bei einem Vertragshändler rumhängen, es kaufen, es auf Hochglanz polieren etc.
Ohne sein Motorrad hätte er sich vielleicht öfter darauf beschränkt, seine Alte anzurufen, in der Hoffnung, sie möge ihm nicht jedesmal ihr ganzes Leben erzählen.
Das Problem war, es funktionierte nicht mehr so gut. Selbst bei 200 stellte sich die Leichtigkeit nicht mehr ein.
Selbst bei 210, selbst bei 220 arbeitete sein Verstand auf Hochtouren. Da konnte er noch so sehr versuchen, sich durchzumogeln, auszuweichen, sich durchzuschlängeln, zu beschleunigen, gewisse Erkenntnisse blieben an seiner Lederjacke kleben und nagten zwischen zwei Tankstellen an seinem Verstand.
Und nun heute, an einem 1. Januar, der blitzsauber war wie eine neue Münze, ohne Tasche, ohne Rucksack, mit nichts anderem auf dem Programm als einem leckeren Essen mit zwei liebenswerten Großmütterchen, hatte er sich wieder aufgerichtet und brauchte nicht mehr zum Dank den Fuß rauszustrecken, wenn ein zuvorkommender Autofahrer erschreckt auswich.
Er hatte die Waffen gestreckt und begnügte sich damit, von einem Punkt zum nächsten zu fahren und dabei immer wieder dieselbe zerkratzte alte Platte abzuspulen: Warum dieses Leben? Wie lange noch? Und wie das alles überstehen? Warum dieses Leben? Wie lange noch? Und wie das alles überstehen? Warum dieses Leben? Wie lange …
Er war todmüde und im Grunde gut gelaunt. Er hatte Yvonne eingeladen, um sich zu bedanken und – zugegeben – damit sie für ihn die Unterhaltung übernahm. Zum Dank konnte er den Autopilot einschalten. Ein Lächeln nach rechts, ein Lächeln nach links, ein paar Flüche, um ihnen eine Freude zu machen, und schon wäre es Zeit für den Kaffee. Klasse.
Sie holte Paulette in ihrem Käfig ab, und dann wollten sie sich im Hôtel des Voyageurs treffen, einem kleinen Lokal mit Zierdeckchen und Trockenblumen, in dem er seine Lehre gemacht und anschließend gearbeitet hatte und an das er ein paar schöne Erinnerungen hatte. Das war 1990 gewesen. Das heißt, vor tausend Millionen Lichtjahren.
Was hatte er damals gehabt? Eine Yamaha Fazer?
Er fuhr Zickzack zwischen den weißen Linien und hatte sein Visier geöffnet, um die sengende Sonne zu spüren. Er würde nicht ausziehen. Nicht gleich. Er könnte bleiben, in dieser viel zu großen Wohnung, in die das Leben eines Morgens mit einer Außerirdischen im Nachthemd zurückgekehrt war. Sie sprach nicht viel, und doch, seit sie da war, war wieder Leben in der Bude. Philibert kam endlich wieder aus seinem Zimmer, und sie tranken morgens ihre heiße Schokolade zusammen. Er knallte nicht mehr mit den Türen, um sie nicht zu wecken, und schlief leichter ein, wenn er sie im Zimmer nebenan hörte.
Anfangs konnte er sie nicht ausstehen, aber jetzt lief es gut. Er hatte sie gezähmt.
He? Weißt du, was du da eben gesagt hast?
Was denn?
Komm, mach hier jetzt nicht einen auf Unschuldslamm. Also wirklich, Lestafier, sieh mir in die Augen, meinst du wirklich, du hättest sie gezähmt?
Eh … nee …
Gut so! Schon besser. Ich weiß ja, daß du nicht allzu helle bist, mein Lieber, aber trotzdem … Du hast mir gerade einen Schrecken eingejagt!
He, ist schon gut. Darf man jetzt nicht mal mehr einen Witz machen?
3
Er entzippte sich im Wartehäuschen einer Bushaltestelle und zog den Krawattenknoten zu, als er durch die Tür trat.
Die Chefin breitete die Arme aus:
»He, was sieht er gut aus! Oh! Man merkt doch gleich, daß du dich in Paris einkleidest! René läßt dich grüßen. Er kommt nach dem Essen vorbei.«
Yvonne stand auf, und seine Omi lächelte ihn zärtlich an.
»Na, die Damen? Wir haben den Tag beim Friseur verbracht, wie ich sehe?«
Sie kicherten über ihrem Kir und rückten auseinander, damit er auf die Loire schauen konnte.
Seine Omi hatte ihr gutes Kostüm herausgeholt, das mit der billigen Brosche und dem Pelzkragen. Der Friseur des Altenheims hatte sich nicht zurückgehalten, sie war genauso lachsfarben wie die Tischdecke.
»Meine Güte, der Friseur hat dich nicht schlecht eingefärbt.«
»Genau das habe ich auch gesagt«, fiel ihm Yvonne ins Wort, »diese Farbe ist wirklich schön, nicht wahr, Paulette?«
Paulette nickte, es ging ihr runter wie Öl, und sie betupfte sich mit der Damastserviette vorsichtig die Mundwinkel, verschlang ihren großen Jungen mit den Augen und errötete hinter der Speisekarte.
Alles verlief genauso, wie er es vorhergesehen hatte: »ja«, »nein«, »tatsächlich?«, »ist nicht wahr«, »Scheiße, Mann«, »Pardon«, »verflucht«, »hoppla« und »Donnerwetter« waren die einzigen Worte, die er von sich gab, Yvonne füllte perfekt die Intervalle.
Paulette sagte nicht viel.
Sie betrachtete den Fluß.
Der Chef hielt noch einen Schwatz mit ihnen und schenkte einen alten Armagnac aus, den die Damen zunächst von sich wiesen, bevor sie ihn wie Meßwein hinunterkippten. Er erzählte Franck ein paar Anekdoten von Koch zu Koch und fragte ihn, wann er hier wieder anfangen würde.
»Die Pariser, die verstehen doch nichts vom Essen. Die Frauen machen Diät, und die Männer denken nur an die Rechnung. Ich bin mir sicher, du hast nie ein Liebespaar zu Gast. Mittags nur Geschäftsleute, denen es ganz egal ist, was sie essen, und abends Eheleute, die ihren zwanzigsten Hochzeitstag feiern und ein Gesicht ziehen, weil der Wagen nicht korrekt geparkt ist und sie Angst haben, daß er abgeschleppt wird. Hab ich recht?«
»Ach, wissen Sie, mir ist das egal. Ich mach meine Arbeit.«
»Sag ich doch! Da oben kochst du für den Gehaltszettel. Komm wieder zu uns, dann gehen wir mit Freunden angeln.«
»Wollen Sie verkaufen, René?«
»Pff … An wen?«
Während Yvonne das Auto holte, half Franck seiner Großmutter in den Ärmel ihres Regenmantels:
»Hier, das hat sie mir für dich mitgegeben …«
Stille.
»Was ist, gefällt’s dir nicht?«
»Doch … doch …«
Sie fing wieder an zu weinen:
»Was siehst du gut darauf aus.«
Sie zeigte auf das Bild, das er nicht mochte.
»Weißt du was, deinen Schal trägt sie jeden Tag.«
»Lügner.«
»Ich schwör’s!«
»Dann hast du recht. Die Kleine ist nicht normal«, fügte sie hinzu und schneuzte sich lächelnd ins Taschentuch.
»Omi, nicht weinen. Wir schaffen das schon, wir kommen da wieder raus.«
»Ja … Mit den Füßen zuerst.«
»…«
»Weißt du, manchmal denke ich, daß ich bereit bin, und dann wieder, ich … ich …«
»Ach, Omi du …« Und zum ersten Mal in seinem Leben schloß er sie in die Arme.
Sie verabschiedeten sich auf dem Parkplatz, und er war erleichtert, daß er sie nicht selbst in ihr Loch zurückbringen mußte.
Als er den Ständer hochschob, kam ihm sein Motorrad schwerer vor als sonst.
Er war mit seiner Freundin verabredet, er hatte ein bißchen Kleingeld in der Tasche, ein Dach über dem Kopf, eine Stelle, er hatte sogar seine Gagabine und seinen Filouchard gefunden, und trotzdem verging er vor Einsamkeit.
So ein Scheiß, brummte er in seinen Helm, so ein Scheiß. Er wiederholte es nicht noch einmal, weil es nichts brachte, und außerdem beschlug sein Visier.
So ein Scheiß.
4
»Hast du schon wieder deinen Schlüssel vergess…«
Camille sprach den Satz nicht zu Ende, weil sie sich im Adressaten geirrt hatte. Es war nicht Franck, sondern die junge Frau von neulich. Die er an Heiligabend rausgeschmissen hatte, nachdem er sie flachgelegt hatte.
»Ist Franck nicht da?«
»Nein. Er ist zu seiner Großmutter gefahren.«
»Wie spät ist es?«
»Eh … so gegen sieben, glaube ich.«
»Hast du was dagegen, wenn ich hier auf ihn warte?«
»Natürlich nicht. Komm rein.«
»Stör ich?«
»Überhaupt nicht! Ich war grad dabei, vorm Fernseher ins Koma zu fallen.«
»Guckst du denn fern?«
»Na klar, warum nicht?«
»Ich warne dich, ich habe mich für die bescheuertste Sendung entschieden. Nur Weiber, die wie Nutten rumlaufen, und Showmaster im taillierten Anzug, die Zettel vorlesen und dabei ganz maskulin die Beine spreizen. Ich glaube, eine Art Karaoke mit irgendwelchen Stars, aber ich kenne keinen davon.«
»Doch, doch, den hier kennst du, das ist der Typ von Star Academy.«
»Star Academy, was ist das denn?«
»Ah ja, wußt ich’s doch. Das hat mir Franck schon erzählt, du guckst nie fern.«
»Nicht viel, nein. Aber das hier find ich klasse. Ich hab das Gefühl, mich in einem ziemlich heißen Schlammbad zu suhlen. Mmm. Die sehen alle gut aus, es gibt pausenlos Küßchen auf die Wange, und die Mädels passen gut auf, daß ihre Wimperntusche nicht verschmiert, wenn sie flennen. Total ergreifend, wirst schon sehen …«
»Kann ich mich setzen?«
»Hier«, sagte Camille, rückte zur Seite und hielt ihr das andere Ende der Decke hin. »Willst du was trinken?«
»Woran hängst du grad?«
»An einem Bourgogne Aligoté.«
»Warte, ich hol mir ein Glas.«
»Was geht denn hier ab?«
»Ich versteh nichts mehr.«
»Schenk mir was ein, ich erklär’s dir gleich.«
Sie unterhielten sich während der Werbepause. Sie hieß Myriam, kam aus Chartres, arbeitete in einem Friseursalon in der Rue Saint-Dominique und wohnte zur Untermiete in einer Einzimmerwohnung im 15. Arrondissement. Sie machten sich Sorgen um Franck, sprachen ihm eine Nachricht aufs Handy und stellten den Ton wieder lauter, wenn die Sendung weiterging. Nach der dritten Werbeunterbrechung waren sie Freundinnen.
»Seit wann kennst du ihn?«
»Keine Ahnung. Einen Monat vielleicht.«
»Ist es was Ernstes?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil er nur von dir spricht! Nee, ich mach nur Spaß. Er hat mir nur erzählt, daß du supergut malst. Sag mal, soll ich dich nicht ein bißchen herrichten, wo ich schon mal da bin?«
»Pardon?«
»Deine Haare?«
»Jetzt?«
»Na ja, später bin ich zu knülle, und dann kann es passieren, daß ich dir ein Ohr abschneide!«
»Aber du hast doch nichts hier, nicht mal eine Schere.«
»Habt ihr keine Rasierklingen im Bad?«
»Eh … doch. Ich glaube, Philibert benutzt noch einen altsteinzeitlichen Säbel.«
»Was genau hast du vor?«
»Dich weicher machen.«
»Macht es dir was aus, wenn wir uns vor einen Spiegel setzen?«
»Hast du Angst? Willst du mich überwachen?«
»Nein, dich beobachten.«
Myriam dünnte ihr die Haare aus, und Camille malte die Szene.
»Darf ich das haben?«
»Nein, alles, was du willst, aber nicht das. Selbstporträts, selbst so verstümmelte wie dieses hier, behalte ich.«
»Warum?«
»Weiß nicht. Ich habe das Gefühl, wenn ich mich immer wieder male, werde ich mich irgendwann auch mal erkennen.«
»Wenn du dich im Spiegel betrachtest, erkennst du dich dann nicht?«
»Ich finde mich immer häßlich.«
»Und auf deinen Bildern?«
»Auf meinen Bildern nicht immer …«
»So ist es besser, oder?«
»Du hast mir Koteletten gemacht, wie Franck.«
»Das steht dir gut.«
»Kennst du Jean Seberg?«
»Nein, wer ist das?«
»Eine Schauspielerin. Sie hatte genau die gleiche Frisur, nur in blond.«
»Ach, wenn es das ist, ich kann dich das nächste Mal auch blond machen!«
»Sie war eine wunderschöne Frau. Sie hat mit einem meiner Lieblingsschriftsteller zusammengelebt. Und dann hat man sie eines Morgens tot in ihrem Auto aufgefunden. Wie konnte eine derart hübsche Frau den Mut aufbringen, sich selbst zu zerstören? Das ist ungerecht, oder?«
»Du hättest sie vielleicht vorher malen sollen. Damit sie sich sieht.«
»Ich war erst zwei.«
»Das ist auch so was, was Franck mir erzählt hat.«
»Daß sie sich umgebracht hat?«
»Nein, daß du haufenweise Geschichten erzählst.«
»Das liegt daran, daß ich Menschen mag. Hm … Was bin ich dir schuldig?«
»Hör auf.«
»Ich schenk dir was dafür.«
Sie kam mit einem Buch zurück.
»König Salomons Ängste. Ist das gut?«
»Besser als gut. Willst du ihn nicht noch mal anrufen, ich mach mir doch irgendwie Sorgen. Vielleicht hatte er einen Unfall?«
»Pff … Mach dir keinen Kopf. Der hat mich bestimmt nur vergessen. Allmählich gewöhn ich mich daran.«
»Warum bleibst du dann mit ihm zusammen?«
»Um nicht allein zu sein.«
Sie hatten schon die zweite Flasche aufgemacht, als er seinen Helm absetzte.
»He, was treibt ihr denn hier?«
»Wir ziehen uns einen Pornofilm rein«, gackerten sie. »Den haben wir in deinem Zimmer gefunden. Keine leichte Entscheidung, was, Mimi? Wie heißt er noch gleich?«
»Zunge weg, ich muß furzen.«
»Ach ja, genau. Super ist der.«
»He, was soll der Blödsinn? Ich hab überhaupt keine Pornos!«
»Nicht? Komisch. Dann hat ihn vielleicht jemand in deinem Zimmer vergessen«, spottete Camille.
»Oder aber du hast dich geirrt«, fügte Myriam hinzu, »vielleicht wolltest du Die fabelhafte Welt der Amélie und hast statt dessen den hier gegriffen: Zunge weg …«
»Was ist denn das für ein Zeug?« Er starrte auf den Bildschirm, während sie noch lauter prusteten. »Ihr seid ja total breit!«
»Stimmt«, gaben sie beschämt zu.
»He!« sagte Camille, als er brummelnd aus dem Wohnzimmer ging.
»Was denn noch?«
»Willst du deiner Verlobten nicht zeigen, wie schön du dich heute gemacht hast?«
»Nein. Geht mir nicht auf die Eier.«
»Och, bitte«, flehte Myriam, »zeig mal, Hasilein!«
»Einen Striptease«, meinte Camille.
»Nackt«, bekräftigte die andere.
»Striptease! Striptease! Striptease!« wiederholten sie im Chor.
Er schüttelte den Kopf und rollte mit den Augen. Er versuchte, entrüstet auszusehen, schaffte es aber nicht. Er war tot. Er wollte sich am liebsten aufs Bett fallen lassen und eine Woche lang schlafen.
»Striptease! Striptease! Striptease!«
»Na schön. Ihr habt es so gewollt. Macht den Fernseher aus und zückt schon mal die Scheinchen, ihr Süßen.«
Er legte Sexual Healing auf und fing mit seinen Motorradhandschuhen an.
Und als der Refrain kam,
get up, get up, get up, let’s make love tonight
wake up, wake up, wake up, cause you douuu it right,
löste er auf einen Schlag die drei letzten Knöpfe an seinem gelben Hemd und schwang es mit einem gekonnten Travolta-Hüftschwung über seinem Kopf.
Die Ladies trampelten mit den Füßen und bogen sich vor Lachen.
Nun war ihm nur noch die Hose geblieben, er drehte sich um und ließ sie langsam zu Boden gleiten, half noch ein bißchen mit der Hüfte nach, zur einen, dann zur anderen Seite, und als sein Slipansatz zu sehen war, ein breites Gummi, auf dem DIM DIM DIM stand, drehte er sich zu Camille um und zwinkerte ihr zu. In dem Moment war das Lied zu Ende, und rasch zog er seine Hose wieder hoch.
»Okay, jetzt ist Schluß mit euren Albernheiten, ich geh in die Falle.«
»Ach …«
»Was für ein Jammer.«
»Ich habe Hunger«, sagte Camille.
»Ich auch.«
»Franck, wir haben Hunger.«
»Tja, die Küche ist in diese Richtung, immer geradeaus und dann links.«
Kurze Zeit später kam er in Philiberts schottischem Morgenmantel zurück.
»Na? Eßt ihr gar nix?«
»Nein, dann halt nicht. Dann sterben wir lieber. Ein Chippendale, der sich wieder anzieht, ein Koch, der nicht kocht, heute abend haben wir wirklich kein Glück …«
»Na gut«, seufzte er, »was wollt ihr? Süß oder salzig?«
»Mmmm, lecker.«
»Das sind nur Nudeln«, antwortete er bescheiden, wobei er die Stimme von Don Patillo aus der Werbung imitierte.
»Was hast du denn da alles reingetan?«
»Na ja, ein paar Kleinigkeiten.«
»Himmlisch«, wiederholte Camille. »Und zum Nachtisch?«
»Flambierte Bananen. Sie müssen entschuldigen, die Damen, aber ich mußte mit den Bordmitteln vorliebnehmen. Na ja, ihr werdet sehen. Der Rum ist kein Old Nick aus dem Supermarkt, damit ihr’s wißt!«
»Mmmm«, wiederholten sie noch mal und leckten ihre Teller sauber, »und jetzt?«
»Jetzt geht’s ins Heiabettchen, und für diejenigen, die es interessiert, mein Zimmer ist dort hinten rechts.«
Sie tranken statt dessen einen Kräutertee und rauchten eine letzte Zigarette, während Franck auf dem Kanapee einnickte.
»Mensch, was ist er schön, unser Don Juan, mit seinem Healing, seinem sexuellen Balsam«, quietschte Camille.
»Ja, du hast recht, er ist klasse.«
Er lächelte in seinem halbkomatösen Zustand und legte einen Finger an die Lippen, damit sie den Mund hielten.
Als Camille das Badezimmer betrat, waren Franck und Myriam schon da. Sie waren zu müde, um Bitte-nach-Ihnen-meine-Liebe zu spielen, und Camille schnappte sich ihre Zahnbürste, während Myriam die ihre wieder einpackte und ihr eine gute Nacht wünschte.
Franck hing über dem Waschbecken und spuckte seine Zahnpasta aus. Als er hochsah, trafen sich ihre Blicke.
»Hat sie das gemacht?«
»Ja.«
»Sieht gut aus.«
Sie lächelten ihr Spiegelbild an, und diese halbe Sekunde währte länger als sonst.
»Kann ich dein graues Trägerhemd anziehen?« kam Myriams Stimme aus seinem Zimmer.
Er putzte sich energisch die Zähne und wandte sich von neuem an das Mädchen im Spiegel, wobei er sich das ganze Kinn mit Zahnpasta verschmierte:
»Echisschiemlichblödawwerichwürdlibermiddirschlafen …«
»Pardon?« fragte sie stirnrunzelnd.
Er spuckte wieder aus:
»Ich hab gesagt: Es ist ziemlich blöd, wenn man kein Tier zum Schlafen hat.«
»Ach so«, sagte sie lächelnd, »ja, das ist blöd. Wirklich.«
Sie drehte sich zu ihm um:
»Hör zu, Franck, ich muß dir was sagen. Gestern habe ich dir gestanden, daß ich mich nicht an meine guten Vorsätze halte, aber einen würde ich gern mit dir zusammen fassen und halten.«
»Sollen wir aufhören zu trinken?!«
»Nein.«
»Zu rauchen?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Ich will, daß du diese kleinen Spielchen läßt.«
»Was für Spielchen?«
»Das weißt du genau. Deine Anmache, diese ganzen plumpen Anspielungen. Ich … ich möchte dich nicht verlieren, ich möchte nicht, daß wir uns in die Wolle kriegen. Ich will, daß das hier gut läuft. Daß das hier ein Ort bleibt … na ja, du weißt schon, wo wir uns alle drei wohl fühlen. Ein ruhiger Ort ohne Komplikationen. Ich … Du … Wir … wir passen nicht zusammen, das ist dir doch klar, oder? Wir zwei, wir … Natürlich könnten wir miteinander schlafen, ja, okay, aber dann? Wir zwei, das wäre der reinste Schwachsinn, und ich … Na ja, es wäre doch schade, das alles kaputtzumachen, oder?«
Er hing in den Seilen und brauchte ein paar Sekunden, bis er zurückschnappte:
»Moment mal, was erzählst du da eigentlich? Ich habe nie gesagt, daß ich mit dir schlafen will! Und selbst wenn ich wollte, ich könnte nicht! Du bist viel zu dürr! Wie sollte ein Typ Lust bekommen, dich zu streicheln? Besorg’s dir selber, Alte! An dich geht ja keiner! Du spinnst ja komplett.«
»Siehst du, wie recht ich habe? Siehst du, wie vorausschauend ich bin? Es würde nie funktionieren zwischen uns. Ich versuche, das alles so taktvoll wie möglich zu sagen, und du hast nichts Besseres zu tun, als im Gegenzug deine ganzen Aggressionen auf mir abzuladen, deine Dummheit, deine Bosheit und deine Gemeinheiten. Zum Glück würdest du mich nie streicheln können! Zum Glück! Ich will deine dreckigen roten Pfoten und deine abgefressenen Fingernägel nicht! Die kannst du dir für deine Kellnerinnen aufsparen!«
Sie hielt sich an der Türklinke fest:
»Okay, das ist ja wohl völlig in die Hose gegangen. Ich hätte den Mund halten sollen. Mensch, bin ich blöd. Ich bin zu blöd. Dabei bin ich normalerweise gar nicht so. Überhaupt nicht. Ich ducke mich eher weg und schleiche auf Zehenspitzen davon, wenn es brenzlig wird.«
Er hatte sich auf den Badewannenrand gesetzt.
»Ja, so mache ich es normalerweise. Aber diesmal, ich dumme Gans, zwing ich mich, mit dir zu reden, weil …«
Er sah auf.
»Weil was?«
»Weil … Das habe ich doch gesagt, weil es mir wichtig ist, daß diese Wohnung ein friedlicher Ort bleibt. Ich werde bald siebenundzwanzig, und zum ersten Mal in meinem Leben wohne ich an einem Ort, an dem ich mich wohl fühle, an den ich abends gerne zurückkehre, und auch wenn ich noch nicht sehr lange hier wohne, so bin ich doch bei allen Beleidigungen, die du mir an den Kopf wirfst, immer noch hier, wie du siehst, und trete meine Selbstachtung mit Füßen, um sie nicht zu verlieren. Eh … verstehst du, was ich sagen will, oder ist das alles nur Kauderwelsch?«
»…«
»Na, dann will ich mal an mich gehen eh … in mich gehen.«
Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen:
»Entschuldige, Camille. Ich benehme mich dir gegenüber wirklich wie ein Holzfäller.«
»Ja.«
»Warum bin ich so?«
»Gute Frage. Also? Wollen wir das Kriegsbeil begraben?«
»Nur zu. Ich fang schon mal an zu schaufeln …«
»Super. Wollen wir es mit einem Küßchen besiegeln?«
»Nein. Mit dir schlafen – meinetwegen, aber Küßchen auf die Wange – niemals. Das ist mir zu hart.«
»Du bist doof.«
Er brauchte einen Moment, um wieder hochzukommen, beugte sich vor, betrachtete seine Zehen, seine Hände, seine Fingernägel, löschte das Licht und nahm Myriam, ohne bei der Sache zu sein, wobei er sie aufs Kopfkissen drückte, damit sie es drüben nicht hörte.
5
Auch wenn sie dieses Gespräch viel Überwindung gekostet hatte, auch wenn sie an diesem Abend beim Ausziehen ihren Körper noch argwöhnischer beäugt hatte, hilflos und entmutigt von all den Knochen, die an den strategischsten Stellen der Weiblichkeit hervorstachen, den Knien, den Hüften, den Schultern, auch wenn sie lange gebraucht hatte, um einzuschlafen, ihre Minuspunkte zählend, bereute sie es nicht. Schon am nächsten Tag spürte sie an der Art, wie er sich bewegte, wie er scherzte, wie er aufmerksam war, ohne zu dick aufzutragen, und egoistisch, ohne es überhaupt zu merken, daß die Botschaft angekommen war.
Myriams Anwesenheit in seinem Leben machte vieles leichter, auch wenn er sie links liegen ließ. Er schlief häufig auswärts und kehrte entspannter zurück.
Manchmal vermißte Camille ihre kleinen Späße. Du dumme Gans, sagte sie sich, es war doch eigentlich ganz nett. Aber ihre schwachen Momente hielten nicht lange an. Weil sie schon viel dafür geblecht hatte, kannte sie den Preis seelischer Ausgeglichenheit genau: unerschwinglich. Und was war eigentlich los? Wo hörte die Ehrlichkeit auf, und wo begannen die Spielchen mit ihm? So weit war sie mit ihren Gedankengängen, allein bei Tisch vor einem nicht ganz aufgetauten Gratin, als sie auf dem Fensterbrett etwas Seltsames entdeckte.
Es war das Porträt, das er gestern von ihr gemalt hatte.
Am Eingang des Schneckenhauses lag ein frisches Salatherz.
Sie setzte sich wieder und stieß mit einem albernen Grinsen ihre Gabel in die kalten Zucchinis.
6
Gemeinsam gingen sie eine hyperperfektionierte Waschmaschine kaufen und teilten sich die Rechnung. Franck strahlte, als der Verkäufer zurückgab: »Aber Madame hat vollkommen recht …« und nannte sie während der ganzen Vorführung Schatz.
»Der Vorteil dieser kombinierten Geräte«, schwadronierte der Verkäufer, »dieser zwei in einem, wenn Sie so wollen, ist natürlich die Platzersparnis. Tja, man weiß ja leider, wie das heute so ist bei den jungen Paaren, die sich neu einrichten.«
»Sagen wir ihm, daß wir uns zu dritt in dreihundert Quadratmeter quetschen?« flüsterte Camille und faßte ihn am Arm.
»Schatz, ich bitte dich …« mokierte er sich, »ich möchte gerne hören, was der Herr zu sagen hat.«
Sie bestand darauf, daß er sie vor Philiberts Rückkehr anschloß, »sonst streßt ihn das zu sehr«, und verbrachte einen ganzen Nachmittag damit, eine Abstellkammer nahe der Küche zu putzen, die man früher wohl »Waschküche« genannt hatte.
Sie entdeckte Stapel über Stapel an Bettüchern, bestickten Geschirrhandtüchern, Tischdecken, Schürzen und Handtüchern mit Waffelmuster … Alte, hart gewordene Seifen und rissige Putzmittel in wunderschönen Dosen: Kristallsoda, Leinöl, Schlämmkreide, Alkohol zum Pfeifenreinigen, Saint-Wandrille-Wachs, Rémy-Wäschestärke, weich wie samtene Puzzleteile, wenn man sie berührte. Eine beeindruckende Kollektion an Bürsten aller Größen und Borstenarten, einen Staubwedel so schön wie ein Sonnenschirm, einen Buchsbaumspanner, um Handschuhen wieder zu ihrer Form zu verhelfen, und eine Art Schläger aus Weidenruten zum Teppichklopfen.
Sie reihte diese Schätze gewissenhaft nebeneinander auf und hielt sie in einem großen Heft fest.
Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, alles zu malen, um es Philibert an dem Tag zu überreichen, da er diese Wohnung verlassen mußte.
Wann immer sie anfing aufzuräumen, fand sie sich im Schneidersitz wieder, in riesige Hutschachteln voller Briefe und Fotos versunken, und verbrachte Stunden mit schmucken Schnurrbartträgern in Uniform, vornehmen Damen, die geradewegs einem Gemälde von Renoir entstiegen waren, und kleinen Jungen, die wie kleine Mädchen gekleidet waren und mit fünf Jahren ihre rechte Hand auf ein Schaukelpferd legten, mit sieben auf einen Reifen und mit zwölf auf eine Bibel, die Schulter ein wenig zurück, um die weiße Armbinde des von der Gnade berührten Kommunikanten zu zeigen.
Ja, sie liebte diesen Ort, und es geschah nicht selten, daß sie beim Blick auf die Uhr zusammenzuckte, durch die Metrogänge raste und sich von Super Josy einen Anpfiff einfing, wenn diese auf ihr Zifferblatt zeigte … Pah!
»Wo willst du hin?«
»Arbeiten, ich bin tierisch spät dran.«
»Zieh dich warm an, es ist eiskalt.«
»Ja, Papa. Übrigens …« fügte sie noch hinzu.
»Ja?«
»Morgen kommt Philou wieder …«
»Echt?«
»Ich habe mir den Abend freigenommen. Bist du da?«
»Ich weiß nicht.«
»Na gut.«
»Zieh dir wenigstens einen Scha…«
Die Tür war schon ins Schloß gefallen.
Da soll sich einer auskennen, wetterte er, wenn ich sie anmache, ist es verkehrt, und wenn ich ihr sage, sie soll sich warm anziehen, hört sie nicht auf mich. Das Weib bringt mich noch um.
Neues Jahr, alte Last. Dieselben schweren Bohnermaschinen, dieselben immerzu verstopften Staubsauger, dieselben numerierten Eimer (»kein Gezänk mehr, Mädels!«), dieselben erbittert umkämpften Reinigungsmittel, dieselben verstopften Waschbecken, dieselbe liebenswerte Mamadou, dieselben müden Kolleginnen, dieselbe hektische Jojo. Alles beim alten.
Besser in Form, war Camille doch weniger eifrig. Sie hatte ihre Steine am Eingang abgeladen, wieder angefangen zu arbeiten, lechzte nach Tageslicht und sah keinen großen Sinn mehr darin, verkehrt herum zu leben. Am Morgen war sie am produktivsten, und wie sollte sie morgens arbeiten, wenn sie nie vor zwei oder drei im Bett war, erschöpft von der körperlichen wie aufreibenden Arbeit?
Ihre Hände kribbelten, ihr Gehirn lief auf Hochtouren: Philibert würde zurückkommen, Franck war erträglich, die Vorzüge der Wohnung unermeßlich. Eine Idee ging ihr nicht aus dem Kopf. Eine Art Freske. Nein, nicht wirklich eine Freske, das Wort war zu hochtrabend. Vielmehr eine Beschwörung. Ja, genau, eine Beschwörung. Eine Chronik, eine imaginäre Biographie des Ortes, an dem sie lebte. Hier gab es so viel Material, so viele Erinnerungen. Nicht allein die Gegenstände. Nicht allein die Fotos, sondern auch die Atmosphäre. Eine Atmosphäääre, wie die andere sagen würde. Gemurmel, noch etwas Herzklopfen. Diese Bücher, diese Gemälde, die arroganten Zierleisten, die Lichtschalter aus Porzellan, die blanken Kabel, die Wärmflaschen aus Metall, die kleinen Töpfe mit Kataplasma, die maßgefertigten Schuhspanner und all die vergilbten Etiketten.
Das Ende einer Welt.
Philibert hatte sie gewarnt: Eines Tages, vielleicht morgen schon, würden sie gehen müssen, ihre Kleider, ihre Bücher, ihre CDs, ihre Erinnerungen, ihre zwei gelben Tupperschüsseln zusammensuchen und alles zurücklassen.
Und dann? Wer weiß? Bestenfalls die Aufteilung, schlimmstenfalls den Sperrmüll, den Trödelmarkt oder die Altkleidersamm
lung. Klar, die Wanduhr und die Zylinderhüte würden Abnehmer finden, aber der Alkohol zum Pfeifenreinigen, die Vorhangfalten, der Pferdeschweif mit seinem kleinen Votivbild In memoriam Venus, 1887-1992, stolzer Fuchs mit getupfter Nase und der Rest Chinin in einem blauen Fläschchen auf der Ablagefläche im Bad, wer würde sich darum scheren?
Konvaleszenz? Somnolenz? Sanfte Demenz? Camille wußte nicht, wann noch wie diese Idee zu ihr gefunden hatte, aber irgendwie hatte sie sich einen Weg zu ihr gebahnt, diese kleine Gewißheit im Taschenformat – und vielleicht hatte sie ihr sogar der alte Marquis ins Ohr geflüstert? –, daß das alles, diese Eleganz, diese mit dem Tod ringende Welt, dieses kleine Museum der Künste und bürgerlichen Traditionen, nur auf ihr Kommen, ihren Blick, ihre Sanftmut und ihre entzückte Feder gewartet hatte, bevor er sich dazu entschloß, für immer zu verschwinden.
Diese skurrile Idee kam und ging, verschwand am Tag, häufig verscheucht von lawinenartigem Hohngelächter: Ach, du bedauernswertes Geschöpf, wohin soll das führen? Und wer bist du überhaupt? Und wen sollte das alles interessieren, was meinst du?
Nachts hingegen. Ja, nachts! Wenn sie von ihren gräßlichen Türmen zurückkehrte, wo sie die meiste Zeit vor einem Eimer gekauert und sich die tropfende Nase mit einem Nylonärmel abgewischt hatte, wenn sie sich zehnmal, hundertmal gebückt hatte, um Plastikbecher und sinnlose Zettel wegzuwerfen, wenn sie kilometerlang fahlen Tunneln gefolgt war, wo geschmacklose Graffiti dergleichen nicht überdecken konnten: Und er? Was fühlt er, wenn er bei euch ist?, wenn sie ihren Schlüssel auf den Konsoltisch in der Diele legte und auf Zehenspitzen die große Wohnung durchquerte, konnte sie es nicht überhören: »Camille, Camille«, knarrte das Parkett, »Halt uns fest«, flehte der ganze Trödelkram, »Sapperlot! Warum die Tupperschüsseln und nicht wir?«, erboste sich der alte General, der auf dem Totenbett abgelichtet worden war. »Das stimmt!« wiederholten die Kupferknöpfe und das schäbige Seidenripsband im Chor, »warum?«.
Dann setzte sie sich im Dunkeln hin und drehte sich langsam eine Zigarette, um sie alle zu beruhigen. Erstens sind mir eure Tupperschüsseln egal, zweitens bin ich da, ihr braucht mich bloß um zwölf zu wecken, ihr Witzbolde.
Und sie dachte an den Prinzen Salina, der allein zu Fuß von einem Ball zurückgekehrt war. Der Prinz hatte gerade ohnmächtig dem Untergang seiner Welt beigewohnt und flehte beim Anblick des blutigen Gerippes eines Ochsen und der Gemüseabfälle auf der Straße den Himmel an, nicht mehr so lange zu warten.
Der Typ aus dem fünften Stock hatte ihr eine Schachtel Mon Chéri hingestellt. Spinner, kicherte Camille, schenkte sie ihrer Lieblingschefin und ließ Kater Karlo sich in ihrem Namen bedanken: »Tja, danke, aber sagen Sie – Sie hätten nicht zufällig welche mit Likör?« Bin ich witzig, seufzte sie und legte ihre Zeichnung hin, bin ich witzig.
In dieser Gemütsverfassung, verträumt und mokant, einen Fuß in Der Leopard, den anderen im Dreck, stieß sie die Tür zu dem kleinen Kämmerchen hinter den Fahrstühlen auf, wo sie ihre Kanister mit Javelwasser und den ganzen anderen Kram aufbewahrten.
Sie war die letzte und fing an, sich im Halbdunkel auszuziehen, als sie merkte, daß sie nicht allein war.
Ihr Herz hörte auf zu schlagen, und sie spürte etwas Warmes über ihre Beine laufen: Sie hatte sich gerade naß gemacht.
»Ist da … Ist da jemand?« stotterte sie und tastete auf der Suche nach dem Lichtschalter die Wand ab.
Er saß auf dem Boden, panisch, wirrer Blick, die Augen hohl vom Stoff oder vom Entzug, diese Gesichter kannte sie nur zu gut. Er rührte sich nicht, atmete nicht mehr und legte der Hundeschnauze mit den Händen einen Maulkorb an.
So verharrten sie einige Sekunden, musterten einander schweigend, bis sie begriffen, daß keiner von ihnen um sein Leben ban
gen mußte, und als er seine rechte Hand löste, um einen Finger auf den Mund zu legen, tauchte Camille ihn wieder in Dunkelheit.
Ihr Herz schlug wieder. Wie wild. Sie griff nach ihrem Mantel und ging rückwärts hinaus.
»Der Code?« stöhnte er.
»P… Pardon?«
»Der Türcode zum Gebäude?«
Sie wußte ihn nicht mehr, stammelte etwas, nannte ihm den Zahlencode, tastete sich an der Wand entlang zum Ausgang und fand sich auf der Straße wieder, keuchend und schweißüberströmt.
Sie begegnete dem Wachmann:
»Nicht sehr warm heute, oder?«
»…«
»Alles in Ordnung? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Müde.«
Sie war völlig durchgefroren, schlug die Mantelschöße über der durchnäßten Trainingshose übereinander und lief in die falsche Richtung. Als sie endlich begriff, wo sie sich befand, folgte sie der weißen Linie, um ein Taxi anzuhalten.
Es war ein luxuriöser Kombi, der die Innen- und Außentemperaturen anzeigte (+21°, -3°). Sie spreizte die Beine, legte die Stirn an die Scheibe und verbrachte den Rest der Fahrt damit, die kleinen, zusammengekauerten Menschenbündel auf den Gittern über den Belüftungsschächten der Metro und in den Schlupfwinkeln der Toreinfahrten zu betrachten.
Die Starrköpfigen, die Dickschädel, die sich weigerten, sich in Alufolie zu hüllen, um nicht vom Lichtstrahl der Scheinwerfer erfaßt zu werden, und die den warmen Asphalt den Kacheln von Nanterre vorzogen.
Sie verzog das Gesicht.
Schlimme Erinnerungen stiegen in ihr hoch.
Und ihr halluziniertes Gespenst? Er hatte so jung ausgesehen.
Und sein Hund? Es war der reinste Schwachsinn. Mit ihm konnte er nirgendwo hingehen. Sie hätte mit ihm reden sollen, ihn vor dem großen Matrix warnen und fragen, ob er Hunger habe. Nein, er wollte seinen Stoff. Und sein Köter? Wann hatte er wohl das letzte Mal Hundefutter bekommen? Sie seufzte. Was war sie blöd. Machte sich Sorgen um eine Promenadenmischung, wo die Hälfte der Menschheit von einem Plätzchen auf einem Entlüftungsschacht träumte, war sie blöd. Komm, geh schlafen, Alte, ich schäme mich für dich. Wie paßt das alles zusammen? Du machst das Licht aus, um ihn nicht mehr zu sehen, bläst dann auf dem Rücksitz einer Limousine Trübsal und kaust auf deinem Spitzentaschentuch.
Husch husch, ins Körbchen.
Die Wohnung war leer, sie holte sich einen Schnaps, ohne hinzusehen, welchen, trank genug, um den Weg zu ihrem Kopfkissen zu finden, und stand in der Nacht wieder auf, um sich zu übergeben.
7
Die Hände in den Taschen, die Nase in der Luft hopste sie unter der Anzeigetafel auf und ab, als eine vertraute Stimme ihr die gewünschte Auskunft erteilte:
»Der Zug aus Nantes. Planmäßige Ankunft 20.35 Uhr auf Gleis 9. Wird voraussichtlich ca. 15 Minuten später ankommen. Wie immer.«
»Ach! Du bist da?«
»Bin ich«, antwortete Franck. »Das fünfte Rad am Wagen. Sag mal, du hast dich aber schön gemacht! Was ist denn das hier? Lippenstift, oder spinn ich?«
Sie verbarg ihr Lachen hinter den Löchern ihres Schals.
»Du bist doof.«
»Nein, ich bin eifersüchtig. Für mich schminkst du dich nie.«
»Das ist keine Schminke, sondern was für aufgesprungene Lippen.«
»Lügnerin. Zeig mal.«
»Nein. Hast du noch Urlaub?«
»Ich fang morgen abend wieder an.«
»Ja? Wie geht’s deiner Großmutter?«
»Gut.«
»Hast du ihr mein Geschenk gegeben?«
»Ja.«
»Und?«
»Sie hat gesagt, um mich so gut zeichnen zu können, müßtest du in mich verknallt sein.«
»Ganz bestimmt.«
»Wollen wir was trinken?«
»Nein. Ich war den ganzen Tag drinnen. Ich will mich da vorne hinsetzen und mir die Leute anschauen.«
»Kann ich dir dabei Gesellschaft leisten?«
Sie kauerten sich auf eine Bank zwischen einem Zeitungskiosk und einem Stempelautomaten und beobachteten das Gewimmel kopfloser Fahrgäste.
»Los! Lauf zu, Junge! Lauf zu! Tja … Zu spääät.«
»Einen Euro? Nee. ’ne Kippe, wenn du willst.«
»Kannst du mir erklären, warum immer die Mädels, die am schlechtesten gebaut sind, Hüfthosen anhaben? Das versteh ich nicht.«
»Einen Euro? He, du hast mich doch eben schon angepumpt, Alter!«
»Siehst du das kleine Muttchen mit ihrer bretonischen Haube, hast du dein Heft mit? Nein? Schade. Und den da? Guck mal, wie der sich freut, seine Frau wiederzusehen.«
»Da ist was faul«, meinte Camille, »das ist bestimmt seine Geliebte.«
»Warum meinst du?«
»Ein Mann, der mit seinem Herrentäschchen in die Stadt kommt, sich auf eine Frau im Pelzmantel stürzt und ihr den Nacken küßt. Glaub mir, da ist was faul.«
»Pff … Vielleicht ist das seine Frau?«
»Nix da! Seine Frau hockt in Quimper und bringt um diese Zeit die Kinder ins Bett! Hier, das ist ein Ehepaar«, kicherte sie und zeigte auf zwei Spießer, die sich an der Markierung eines TGV anbrüllten.
Er schüttelte den Kopf:
»Du hast keine Ahnung.«
»Du bist zu sentimental.«
Anschließend ging ein uraltes Paar mit zwei Stundenkilometern an ihnen vorbei, gebeugt, zärtlich, vorsichtig hielten sie sich am Arm. Franck stieß sie mit dem Ellbogen an:
»Hier!«
»Ich geb mich geschlagen.«
»Ich liebe Bahnhöfe.«